Das Subjekt als Baumeister des Sozialen – die aktive Gestaltung von Netzwerken: Im Prozeß der Freiheitsentfaltung der Moderne hat sich die Typik sozialer Beziehungen entscheidend verändert. Die Verkehrsformen haben sich aus institutionellen und normativen Verhaltensreglements herausgelöst, die die denkbaren Handlungsmöglichkeiten für fast jede Situation bis ins Detail festgelegt haben. Das »Soziale« (Bindungen, Freundschaften, Vertrautheiten) ist nicht mehr das selbstverständlich Gegebene. Beziehungsarrangements werden offener, aufkündbarer, zerbrechlicher, mehr und mehr von Kriterien der Entscheidungsfreiheit, Freiwilligkeit und Interessenhomogenität bestimmt. An die Stelle von sozial vorgegebenen Zwangsgemeinschaften treten Beziehungsarrangements, die als offene Aushandlungsgemeinschaften in die Regie der Beteiligten gestellt sind. Das Subjekt wird so zum aktiven Initiator und Konstrukteur seiner eigenen Kontakt-, Bekanntschafts-, Freundschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen, kurz: es wird zum »Baumeister seiner sozialen Welt«. Freilich: Die Wahlfreiheit des Subjektes, seine Fähigkeit, soziale Mitgliedschaft und Inklusion in eigener Regie zu modellieren, sind nicht grenzenlos. Die Chancen, befriedigende Netzwerk-Arrangements zu inszenieren, sind nicht gleich verteilt. Soziale Kontexte und Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit setzen dieser Wahlfreiheit enge Grenzen. Die Befunde der neueren Netzwerk-Forschung belegen dies eindeutig: Größe, räumliche Reichweite, Vertrautheit und subjektiv befriedigend erlebte Unterstützungsqualität von Netzwerken sind entlang der »klassischen« Dimensionen sozialer Ungleichheit (Bildung, Einkommen, berufliches Prestige) verteilt – und dies zulasten der Angehörigen der unteren sozialen Milieus. Ein signifikantes Niveau materieller Ausstattung ist von daher eine erste Voraussetzung für das Gelingen einer produktiven Selbstorganisation in der sozialen Mikrowelt. Hinzukommen muß ein weiteres: Es bedarf zunehmend auch spezifischer psychosozialer Ressourcen von Beziehungsfähigkeit. Denn: Netzwerkbindungen müssen gepflegt, beständig erneuert, im aktiven Zugehen auf den anderen immer wieder aufs Neue beglaubigt werden. Netzwerkbindungen bedürfen einer beständigen Investition, sie bedürfen eines nicht versiegenden Stroms von wechselseitigen Austauschakten, durch die sich gegenseitige Anerkennung, Vertrautheit und Zusammengehörigkeit immer wieder neu bestätigen. Die Chancen, die in der Offenheit der Konstruktionspläne sozialer Netzwerke angelegt sind, wird nur der einlösen können, der über dieses Kapital psychosozialer Beziehungsfähigkeit verfügt. Hingegen wird der, der zu einem solchen produktiven Beziehungsmanagement nicht in der Lage ist, einen hohen Preis bezahlen müssen: den Preis der radikalen Vereinsamung. In einer Welt, in der Bindungen und soziale Nähe die Renditen des Investments von sozialem Kapital sind, bleibt jedem, dessen Kapital aufgebraucht ist, der tiefrote Beziehungszahlen schreibt, nur die Einsamkeit.
Kommunitarismus – die Wiederentdeckung der Ressource Solidarität: In der aktuellen Gedankenlandschaft werden vielfältige Heilrezepturen und Gegengifte angeboten, die gegen die negativen Nebenwirkungen einer beschleunigten Freisetzung – Vereinzelung, Ellenbogen-Mentalität und die Abnahme von sozialer Bedenklichkeit – immun machen sollen. Die Kommunitarismus-Bewegung, die in der Gegenwart auf beiden Seiten des Atlantiks eine Renaissance erlebt, verspricht vielen ein solches Gegengift (zur Einführung vgl. Bude 2019; Etzioni 2004; 2015; Reese-Schäfer 2001; 2019). Kommunitaristische Ansätze – so unterschiedlich sie in ihren ideologischen Besetzungen auch sein mögen – setzen in ihrem Kern auf Werte der Gemeinschaft und der sozialen Kohäsion. Alle diese Ansätze konvergieren in der Forderung nach einer »Kultur der Kohärenz«, die der scheinbaren Beliebigkeit pluraler Lebens- und Kulturmuster neue Ressourcen identitärer Gemeinschaftlichkeit gegenüberstellen könnte. Eine lebendige Demokratie, die in einer immer weiter vorangetriebenen Freiheitsentfaltung des Subjektes nicht die Grundlagen allen sozialen Zusammenlebens – Solidarität und Gemeinsinn – auflösen will, eine solche Demokratie bedarf gemäß der Überzeugung der Kommunitaristen einer gemeinsam geteilten Wertebasis. Drei Bausteine bilden diese einheitsstiftende Wertebasis: (1) Solidarität: Eine zivile Gesellschaft ist eine Gesellschaft solidarischer Vergemeinschaftung. Die individuellen Freiheiten, die die Bürgergesellschaft dem Einzelnen garantiert, sind nicht nur private Freiheiten – sie verlangen vom Einzelnen vielmehr, daß er diese Freiheiten aktiv ausfüllt, Verantwortung für das eigene Leben und für die Belange der Gemeinschaft übernimmt. Die Gesellschaftsmitglieder definieren sich so als »Beteiligte am gemeinsamen Unternehmen der Wahrung ihrer Bürgerrechte«. Kraftquelle dieses Unternehmens aber ist die Ressource Solidarität, die auch in Zeiten einer radikalen Pluralisierung die Erfahrung von sozialer Zugehörigkeit und identitätsstiftender Bindung möglich macht. (2) Politische Partizipation: Die Demokratie bedarf der sozialen und politischen Teilhabe ihrer Bürger. Sie bedarf lebendiger Identifikationsgemeinschaften, Solidargemeinschaften von Bürgerschaftlichkeit, in denen Menschen gemeinsam mit anderen ihre politische Stimme entdecken, in der durchaus konfliktgeprägten Auseinandersetzung zwischen partikularen Interessen Gemeinsinn entwickeln und in ihrer wechselseitigen Verständigung eine neue kommunitäre Identität entwerfen. Notwendiges Requisit ist für Taylor hier eine Öffnung der Demokratie für eine Vielfalt von Formen direkter Partizipation, die Menschen eine strittige Einmischung lohnenswert machen und ihnen den Zutritt zu Arenen der politischen Gestaltung eröffnen. (3) Respekt und die Achtung des Anderen: Differenz, Pluralität, Partikularität der Lebens- und Sinn-Welten sind nicht mehr aufhebbare Webmuster der Moderne. Die zivile Gesellschaft ist damit notwendig eine offene Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher Herkünfte, Bindungen und Sinnhorizonte zusammenleben. Gerade dort, wo Erfahrungen der sozialen Ungleichheit, der Diskriminierung und der Nicht-Zugehörigkeit in die Alltagswelten der Bürger einziehen, ist das demokratische Miteinander gefährdet. Hier ist es die sich wechselseitig achtende Anerkennung der Bürger, die Zündfunke einer neuen solidarischen Vergemeinschaftung sein kann. Das kommunitaristische Projekt, das sich diesen unteilbaren Grundwerten verpflichtet fühlt, versteht sich als ein Gegenentwurf gegen eine Gesellschaft, deren »sozialer Kitt« in der Dynamik einer beschleunigten Individualisierung zerfällt. So unterschiedlich die demokratietheoretischen Positionen der Protagonisten auch sind – gemeinsam sind der vielstimmigen zivilgesellschaftlichen Debatte zwei Anliegen: zum einen das Bemühen um eine Stärkung des Gemeinsinns und des gemeinwohlorientierten Engagements der Bürger in eigeninszenierten sozialen Netzwerken; und zum anderen das Eintreten für eine durchgreifende Demokratisierung gesellschaftlicher Strukturen, die die Reichweite des etatistischen Eingriffshandelns eingrenzt und den Bürgern und ihren kollektiven Vertretungen die Instrumente einer demokratischen Selbstregierung an die Hand gibt. In diesen Zukunftsbildern einer reflexiven und partizipatorischen Demokratie aber begegnen sich der theoretische Diskurs der Zivilgesellschaft und die Empowerment-Praxis der Bürger im Kontext der neuen sozialen Bewegungen.
Beenden wir hier unsere Ausführungen zur Individualisierungstheorie. Wir haben in drei abschließenden Stichworten versucht, die Voraussetzungen zu benennen, an die ein subjektives