»Wer die Gegenwart einzuschätzen versucht, kann zu zwei entgegengesetzten Lesarten kommen. Die radikale Enttraditionalisierung der Lebensformen eröffnet einerseits historisch beispiellose Möglichkeiten der Selbst-Organisation; andererseits verstärkt und verschärft sich der Wunsch nach Klarheit, Überschaubarkeit, Einfachheit, und entsprechende gesellschaftliche Angebote stehen hoch im Kurs. Mit der Erosion rigider Identitätsformen eröffnen sich Entfaltungsmöglichkeiten für Lebenssouveränität (ein Stück ›eigenes Leben‹ läßt sich das auch nennen). Aber gleichzeitig etablieren sich neue Rigiditäten und Identitätszwänge, oft gerade unter der Flagge der großen Freiheiten, Wahrheiten und Authentizitäten. Die Rede vom ›Freisetzungsprozeß‹ ist (wie bei Marx) ironisch zu verstehen: Die Befreiung von Zwängen und die Einrichtung neuer Abhängigkeiten greifen ineinander, vermischen sich in einem ›Selbstzwang zur Standardisierung der eigenen Existenz‹« (Keupp 1994, S. 336; zur Weiterentwicklung des Individualisierungsdiskurses zu einer »Theorie der reflexiven Modernisierung« vgl. Schneider/Kraus 2013).
Gegenwartsdiagnosen: Schattenseiten der Individualisierung
Der Individualisierungsdiskurs währt nunmehr seit mehr als drei Jahrzehnten. Blicken wir auf die Diskussionslandschaft der Jetzt-Zeit, so ist ein markanter Perspektivwechsel zu vermerken. »Neue soziale Spaltungen«, »der Drift ins gesellschaftliche Abseits«, »prekäre Sicherheit« – Stichworte wie diese lassen einen veränderten Fokus erkennen. Nicht die Freiheitsgewinne einer offenen Identitätspolitik stehen im Mittelpunkt – vielmehr geraten die Schattenseiten der Individualisierung vermehrt in den Blick. Stellvertretend für eine kritische Gegenwartsdiagnose »in Sachen Individualisierung« stehen zwei aktuelle Veröffentlichungen (Bude 2014; Reckwitz 2017).
Die Gesellschaft der Angst: Wir leben in einem »Zeitalter der Angst«, in dem wohlfahrtsstaatliche Integrationsversprechen gebrochen werden und umfassende Unsicherheiten die privaten Leben erschüttern – dies ist die Leitthese der Gegenwartsdiagnose von Bude: »Angst ist der Ausdruck für einen Gesellschaftszustand mit schwankendem Boden… Man ist von dem Empfinden beherrscht, in eine Welt geworfen zu sein, die einem nicht mehr gehört« (»Gesellschaft der Angst« – Klappentext).
Der erste diagnostische Blick des Autors richtet sich auf die Lebenslage der »stilbildenden und machtgestützten Mehrheitsklasse unserer Gesellschaft« (Bude 2014, S. 63) – jenes Ensembles also von hoch qualifizierten und produktiv tätigen Beschäftigten und Selbständigen in der Mitte der Gesellschaft. Zwar vermittelt dieses Zentrum gesellschaftlicher Integration nach wie vor vielen Sicherheit, Status, soziale Anerkennung. Und dennoch: Die Milieus in der gesellschaftlichen Mitte driften auseinander. Es mehren sich Lebenslagen von »Bildungsverlierern aus bildungsnahen Milieus«, welche – entgegen tradierter Sicherheitsversprechen – in vulnerable Karrieren mit geringen und prekären Einkommen, projektgebundenem Arbeitsmarktrisiko und löchriger sozialer Sicherung eingebunden sind. Gemeinsam ist dieser sich nach innen differenzierenden Mehrheitsklasse – so Bude – ein Gefühl prekärer Privilegiertheit. Alte Sicherheiten und Aufstiegsversprechen werden aufgekündigt; an deren Stelle tritt Statusangst: »ein rumorendes Empfinden der Bedrohtheit des überkommenen, erreichten oder behaupteten sozialen Status« (Bude 2014, S. 74f.). Gemeinsam ist der Mehrheitsklasse auch die Antwort auf diese umfassende Bedrohtheit. Die Antwort besteht aus »Endlosschleifen der Selbstoptimierung«. Die Angehörigen der globalen Mittelklasse sehen sich zu einer Lebensführung gezwungen, welche durch einen nicht abreißenden Performanzdruck und die beständige Renovierung des subjektiven Konkurrenzvermögens gekennzeichnet ist. Im Strom einer beschleunigten Innovation der Arbeitsmärkte (Industrie 4.0, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz) – so die Bilanz – gibt es keine Hintertüren, die es Menschen möglich machen würden, diesem Optimierungszwang zu entgehen. Die Folge: ein erschöpftes brüchiges Ich.
Der zweite diagnostische Blick des Autors gilt der Lebenslage der Menschen auf den unteren Etagen der Gesellschaft, den Angehörigen des »Dienstleistungsproletariats« mit geringem Einkommen und konjunkturabhängiger Arbeitsmarkt(un-)sicherheit. Das Komplement des Lebensempfindens in diesem »Proletariat einfacher Dienste« (Bude 2014, S. 89) ist Statusfatalismus. An die Stelle letzter Splitter von Zukunftsvertrauen treten hier Selbstaufgabe und Demoralisierung. Der Glaube an Selbstwirksamkeit, d. h. die Überzeugung, die eigene sozialökonomische Lage mit subjektiven Ressourcen positiv gestalten zu können, geht im Strudel der Exklusionsdynamik verloren. Was bleibt, ist Resignation und Rückzug ins Private – in manchen Fällen gepaart mit politischem Aufbegehren an den Rändern des demokratischen Wertespektrums.
Die Gesellschaft der Singularitäten: Das Besondere ist Trumpf, das Einzigartige wird prämiert, eher reizlos ist das Allgemeine, Regulierte und Standardisierte. Im Mittelpunkt der Identitätsarbeit des spätmodernen Subjektes steht das Bemühen um eine singularisierte Lebensführung, das komplizierte und vielfach erschöpfende Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit. Das neue Maß der Dinge sind die authentischen Subjekte mit originellen Interessen und distinktiver Biographie. Unsere spätmoderne Gesellschaft feiert das Singuläre. »In der Spätmoderne findet ein gesellschaftlicher Strukturwandel statt, der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgemeinen ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Logik des Besonderen. Dieses Besondere, das Einzigartige, also das, was als nichtaustauschbar und unvergleichbar erscheint, will ich mit dem Begriff der Singularität umschreiben« (Reckwitz 2017, S. 11). Reckwitz unternimmt mit seiner kultursoziologischen Inventarisierung der Gegenwart den Versuch, über die Beck’sche Theorie der Individualisierung hinaus eine umfassende Theorie der Moderne zu schreiben, welche den Strukturwandel von der »industriellen Moderne« zu einer »Gesellschaft der Singularitäten« analysiert.
Schwungrad der Entwicklung ist der radikale Umbau der industriellen Moderne. Diese war in ihren Hochzeiten durch eine tiefgreifende formale Rationalisierung – in den Worten des Autors durch eine »soziale Logik des Allgemeinen« – geprägt. »Überall ging es um Standardisierung und Formalisierung, um eine Verfertigung der Elemente der Welt als gleiche, gleichartige, auch gleichberechtigte: auf den Fließbändern der industriellen Produktion…, im Rechts- wie im Sozialstaat, im Militär, bei der ›Verschulung‹ der Kinder und Jugendlichen, in den Ideologien und der Technik« (Reckwitz 2017, S. 15). Diese fordistische, auf Standardisierung, Routinisierung und Output-Optimierung aufbauende Ökonomie – obwohl in den Kernbereichen der materiellen Produktion fortbestehend – bricht heute auf: Es entsteht eine postindustrielle Wissens- und Kulturökonomie. Im Mittelpunkt steht hier die Produktion von »Singularitätsgütern«, deren Konsumtion mit dem Versprechen von Einzigartigkeit und Distinktion verknüpft ist:
»Sowohl für materielle Güter wie für Dienstleistungen gilt, dass an die Stelle der Massenproduktion uniformer Waren jene Ereignisse und Dinge treten, die nicht für alle gleich oder identisch sind, sondern einzigartig, das heißt singulär sein wollen… Die spätmoderne Ökonomie ist mehr und mehr an singulären Dingen, Diensten und Ereignissen ausgerichtet, und die Güter, die sie produziert, sind zunehmend solche, die nicht mehr rein funktionale, sondern auch oder allein kulturell konnotiert sind und affektive Anziehungskraft ausüben. Wir leben nicht mehr im industriellen, sondern im kulturellen Kapitalismus« (Reckwitz 2017, S. 7f.).
Dokumente dieses Strukturwandels der Produktion sind für den Autor die beschleunigte Entwicklung von »creative industries« und Singularitätsmärkten (Internet, Design, Kunst, Werbung), die expandierenden Branchen der Erlebnisökonomie wie auch die neuen kulturellen Schnittmuster alltagsbezogener life styles (Wohnungsausstattung, Ernährung, Gastronomie).
Die beschriebene Kulturalisierung der Produktion hinterläßt Spuren in der Lebensgestaltung der Subjekte. Die Suche nach einem »singularistischen Lebensstil« – so lautet der neue Imperativ der Lebensführung. Authentizität und Selbstverwirklichung, kulturelle Offenheit und Diversität, Lebensqualität und Kreativität sind die Parameter dieses Lebensstils, der eine generalisierte Strahlkraft gewinnt.
»Jener bis in die 1970er Jahre herrschende westliche Subjekttypus, den David Riesman als ›sozial angepasste Persönlichkeit‹ beschrieb, der Durchschnittsangestellte mit Durchschnittsfamilie in der Vorstadt, ist in den westlichen Gesellschaften zur konformistisch erscheinenden Negativfolie geworden, von der