Wohl kein anderes soziologisches Denkmuster hat in den letzten Jahren über den Rand der Forschergemeinschaft hinaus eine solche Publizität erfahren wie das Individualisierungstheorem. Dieses Denkgebäude ist zuerst von dem Münchner Soziologen Ulrich Beck in eine bündige Form gebracht und später dann in einer Vielzahl von Veröffentlichungen ausgearbeitet worden (vgl. einführend Beck 1986; 1997; Beck/Beck-Gernsheim 1994). Blättern wir hier nun die Seiten der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung zurück. In einem ersten Schritt kommen in der folgenden Darstellung zunächst jene Autoren zu Wort, die die Fundamente der Individualisierungsdebatte gelegt haben. Kontrastiert werden diese frühen Diskurse in einem zweiten Schritt dann durch kritische Gegenwartsdiagnosen, welche die Jetzt-Zeit der Individualisierung vermessen.
Grundrisse der Individualisierungsdebatte
Individualisierung – das ist nach Beck ein Prozeß der Herauslösung und der Freisetzung der Menschen aus historisch vorgegebenen Sozialbindungen und Kontrollzusammenhängen, das ist ein Prozeß radikaler Enttraditionalisierung, der die Subjekte aus selbstverständlich gegebenen sozialen Lebenszusammenhängen und Sicherheiten »freisetzt«. Das Individuum der Gegenwart – befreit von den Kontroll- und Sicherheitskorsetts traditionaler Bindungen an Familie, Milieu, Glaubenssystemen und verpflichtender gemeinschaftlicher Moral – wird zunehmend und notwendigerweise zum aktiven Gestaltungs- und Organisationszentrum seiner sozialen Verkehrsformen und Lebenspläne. In der Literatur werden drei analytische Dimensionen von Individualisierung unterschieden:
1. die Auflösung tradierter Sozial- und Kontrollbindungen: die Herauslösung und Freisetzung des Individuums aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge von Familie, sozialem Milieu und Klassenkultur (»Freisetzungsdimension«);
2. die Erosion normativer Sinnhorizonte: der Verlust von traditionalen Sicherheiten und festen Wertbindungen im Hinblick auf Handlungswissen, Glaubenssysteme und verpflichtende Normen einer subjektiven Alltagsethik (»Entzauberungsdimension«);
3. die Entstrukturierung der subjektiven Lebensläufe: die Auflösung festgefügter und sozial normierter Lebensweg-Programme, die Vervielfältigung der prinzipiell wahloffenen biographischen Optionen und die Suche nach neuen, sicherheitsspendenden Formen sozialer Einbindung (»Reintegrationsdimension«; vgl. Beck 1986, S. 206; zusammenfassend Junge 2002).
Individualisierung wird von Beck (1986) gedeutet als ein Prozeß der Herauslösung der Menschen sowohl aus traditionalen Mustern der Abhängigkeit und der Hörigkeit wie auch aus den Sicherheiten verläßlicher Sinnprovinzen von Glauben, Werten, gemeinschaftlichen Lebensorientierungen. In immer schnellerem Tempo – so die Gegenwartsdiagnose von Beck – vollzieht sich eine Freisetzung der Menschen aus traditionsbestimmten Lebensformen und Milieubindungen. Die Webmuster sozialer Verkehrsformen verändern sich. Vor dem Hintergrund einer durchgreifenden Modernisierung aller Lebensbereiche (Dynamisierung der Arbeitsmarktbewegung; Umgestaltung der Machtkonstellationen in den Geschlechterbeziehungen; Vervielfältigung der Formen des Zusammenlebens wie auch der Konstruktionen eigenwilliger Lebensstile) zerfällt die Bindungskraft sozialkulturell überlieferter Modelle »normaler« Lebensführung. Die Lebensgestaltung wird offen, die Subjekte werden zu Regisseuren der eigenen biographischen Geschichte.
»Individualisierung bedeutet in diesem Sinne, daß die Biographie der Menschen aus vorgegebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt wird. Die Anteile der prinzipiellen entscheidungsverschlossenen Lebensmöglichkeiten nehmen ab, und die Anteile der entscheidungsoffenen, selbst herzustellenden Biographie nehmen zu. Individualisierung von Lebenslagen und -verläufen heißt also: Biographien werden ›selbstreflexiv‹; sozial vorgegebene wird in selbst hergestellte und herzustellende Biographie transformiert« (Beck 1986, S. 216).
Und Keupp (1987) formuliert dazu in gleicher Weise:
»Die Folgen dieses Freisetzungsprozesses gehen für die Subjekte weit über die Veränderung äußerer Lebenskonturen hinaus. Sie fordern eine veränderte innere Ausstattung, um durch eine sich partikularisierende Welt und die ständig geforderten situativen Umstellungen ohne Zerfall der Person durchzukommen. Stabile Handlungsorientierungen, Koordinaten, die für ein Leben lang sichere Bezugspunkte liefern könnten oder das Anknüpfen an Modellen aus der eigenen Elterngeneration sind kaum mehr möglich. Die Subjekte werden zum ›Dreh- und Angelpunkt der eigenen Lebensführung‹, der Einzelne muß lernen, ›sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen‹ (Beck 1983). Die Biographien lösen sich immer stärker aus vorgegebenen Rollenmustern und Schablonen… Der Individualisierungsprozeß, der im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft von Anbeginn angelegt war, hat in seiner Dynamik mittlerweile unsere Gesellschaft ganz durchdrungen und alle gesellschaftlichen Schichten erfaßt« (Keupp 1987, S. 37).
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer beschleunigten Individualisierung: Individualisierung ist keine Erfindung der Gegenwart. Die Spuren reichen zurück in die ersten Aufbrüche der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Keupp (1994) faßt diese ersten Erschütterungen der Individualisierung wie folgt zusammen:
»Vormoderne Gesellschaften mit ihren statisch-hierarchisch geordneten Sozialstrukturen, die zugleich die religiöse ›Weihe‹ von Gott gewollter und gestifteter Ordnungen für sich in Anspruch nehmen konnten, hatten keinen Spielraum für selbstbestimmte Lebensentscheidungen der Subjekte. Die Ordnung der Dinge bestand in einem Korsett von feststehenden Rollen, Normen und Lebenswegen. Der Prozeß der Modernisierung, der im Zuge der Durchsetzung der kapitalistisch verfaßten industriellen Gesellschaften in Gang kam, führte zu einer dramatischen ›Freisetzung‹ aus orts- und sozialstabilen Bindungen und schuf damit letztlich auch die moderne ›soziale Frage‹. Diese Freisetzung erzwang den im doppelten Sinn ›freien‹ Lohnarbeiter: Er besaß nichts mehr außer seiner Arbeitskraft (er war also ›frei‹ von Produktionsmitteln), und er war gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen (die ›Freiheit‹, sie an den Kapitalisten zu verkaufen, der dafür am meisten bot). Die aus dieser ›Freiheit‹ entstandenen individuellen Entscheidungen waren immer von der Not des Überlebens geprägt. Die im entstehenden Proletariat gemeinsame Erfahrung, daß die eigene Lebensexistenz in elementarster Weise bedroht ist, führte zu ›Notgemeinschaften‹ und schließlich auch zu kollektiven Kampforganisationen, die für eine Minderung der Lebensnot zu streiten hatten. In diesem Kampf ist unter anderem auch der moderne Sozialstaat entstanden, als kompromißhafter Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital. In diesem Prozeß der kollektiven Interessenorganisation haben sich neuartige Strukturen engmaschiger solidarischer Netzwerke, Formen der Absicherung von Lebensrisiken, herausgebildet« (Keupp 1994, S. 337f.).
In dieser Traditionslinie stehen auch die aktuellen Freisetzungs- und Individualisierungsprozesse. Allerdings kommen neue Elemente hinzu, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, von einer »zweiten Phase der Individualisierung« zu sprechen. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften des Westens haben die durchschnittlich erreichbaren Standards von Existenzsicherung und Lebensqualität (Sicherung der materiellen Existenz; Partizipation an kulturellen und sozialen Gütern; Level der Teilhabe an Konsum) ein relativ hohes Niveau erreicht, so daß der alltägliche Kampf gegen eine existentielle Lebensnot nicht mehr die erste Priorität besitzt. Beck (1986, S. 124) spricht hier von einem »Fahrstuhleffekt«: Zwar bestehen alte Relationen sozialer Ungleichheit fort (im Zeichen einer ›Politik der sozialen Kälte‹ und angesichts der aktuellen Rotstift-Politik der Leistungsreduktion sogar in verschärfter Form), allerdings auf der Basis einer für alle erhöhten Basissicherung. Zu diesen, in die Gegenwart hinein beschleunigten Prozessen der Individualisierung beigetragen haben u. a.:
• Die wohlfahrtsstaatliche Entwertung privater Solidargemeinschaften: Die Absicherung der Lebensexistenz durch Erwerbseinkommen bzw. durch sicheren Anspruch auf Lohnersatzleistungen sowie der Ausbau der Systeme sozialer Sicherung haben zu einer radikalen Entwertung der »privaten Sozialversicherung« geführt, die vormals noch durch die Solidarbindungen von Sozialmilieu und Klassenkultur gegeben war. Diese kollektiven Formen der solidarischen Unterstützung scheinen mehr und mehr entbehrlich, sie zerfallen. Zugleich entsteht aber