Empowerment in der Sozialen Arbeit. Norbert Herriger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert Herriger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170341487
Скачать книгу
und die sinnstiftende Teilhabe an bürgerschaftlichen Zugehörigkeitsgemeinschaften. Diese drei Stichworte skizzieren in aller Kürze das Profil der Anforderungen, die sich dem modernisierten Menschen – in den wechselnden Situationen, Räumen und Passagen seines Lebens – stellen. Dieses Anforderungsprofil benennt zugleich die zentralen Zielsetzungen einer psychosozialen Praxis des Empowerment. Eine verberuflichte Hilfe, die sich den Herausforderungen der Moderne stellt, hat so stets drei Handlungsdimensionen: Sie ist für ihre Adressaten (1) Wegweiser im Irrgarten der Identitätskonstruktionen und Wegbegleiter bei der Suche nach Lebenssinn. Sie vermittelt (2) tatkräftige Unterstützung bei Aufbau und Pflege von sozialen Netzwerken. Und sie fördert (3) die Eröffnung von Partizipationsräumen, in denen Menschen in sozialer Inklusion die Erfahrung von selbstorganisierter Gestaltungsfähigkeit machen und die Ressource Solidarität neu entdecken können.

      3 Klientenbilder im Wandel: Auswege aus der Entmutigung

      3.1 Biographische Nullpunkt-Erfahrungen: Der Verlust von Lebensregie und erlernte Hilflosigkeit

      Ausgangspunkt von Empowerment-Prozessen ist stets das Erleben von Machtlosigkeit und Fremdbestimmung – die Erfahrung also, ausgeliefert zu sein, mit dem Rücken an der Wand zu stehen, die Fäden der eigenen Lebensgestaltung aus der Hand zu verlieren. Die Alltagserfahrungen der sozialen Praxis bestätigen dies Tag für Tag aufs Neue: Ob nun in der Arbeit mit strafentlassenen Menschen, mit dissozialen Straßenkindern, mit langzeithospitalisierten Patienten psychiatrischer Einrichtungen oder mit alleinstehenden wohnungslosen Menschen – stets ist es die schmerzliche Erfahrung des Verlustes von Selbstbestimmung und Autonomie, die den biographischen Nullpunkt der Lebensgeschichten dieser Menschen markiert und die Ausgangspunkt für die Suche nach Auswegen aus der Ohnmacht ist. Schon klassisch ist die Definition von Seeman (1959): Er definiert Machtlosigkeit als die generalisierte (auf alle Lebensbereiche, Lebenssituationen und Lebenszukünfte verallgemeinerte) »Erfahrung des Individuums, daß man durch eigenes Handeln das Eintreten gewünschter Ergebnisse nicht beeinflussen kann« (Seeman 1959 zit. n. Kieffer 1984, S. 15). Ähnlich auch die Begriffsbestimmung von Freire (1973): Machtlosigkeit entsteht nach seiner Erfahrung immer dort, wo der einzelne lernt, sich als Objekt zu begreifen, das von Umweltgegebenheiten abhängig ist, nicht aber als Subjekt, das die Lebenswelt aktiv und produktiv zu gestalten vermag. Mit der Einübung in diese Objekt-Rolle aber verliert die Person alle tauglichen Werkzeuge für eine eigengesteuerte Konstruktion sozialer Wirklichkeiten. Machtlosigkeit, so Freire, spiegelt sich so in der passiven Hinnahme repressiver sozialkultureller Gegebenheiten und in der Verneinung der eigenen Ansprüche auf Lebenssouveränität in einer »Kultur des Schweigens« (culture of silence). Diese Kultur des Schweigens wird auch in den folgenden Zitaten deutlich. In ihnen geben Menschen, mit Blick zurück auf die dunklen Flecken der eigenen Biographie, ihrer Erfahrung von Machtlosigkeit Ausdruck und Sprache.

      »Mein ständiger Begleiter war das Gefühl, nur ein ›geborgtes Leben‹ zu leben. Oder anders ausgedrückt: Das Leben erschien mir wie ein Fluß, der mich mit sich reißt, ohne daß ich je festen Boden unter die Füße bekommen hätte. Sicherheit und Glücklich-Sein – das schien mir eine Sache der anderen, der ›da oben‹, die es – wie auch immer – geschafft hatten, auf die Sonnenseite des Lebens zu kommen… Ich habe mich nie getraut, eine eigene Meinung zu haben. Eine Situation, die mehr als ein ›Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben‹ gewesen wäre, erschien mir ein utopischer Traum, die Zukunft nur ein schwarzes Loch« (ehemaliger Patient einer Langzeitklinik für Depressionskranke).

      »Solange ich mich zurückerinnern kann, war unser Familienleben ein einziger ›Full-Time-Job‹ ums Überleben. Es fehlte an allen Ecken und Enden: Nie waren wir Kinder sicher, daß sich der Kühlschrank wieder füllte. Unsere bescheidenen Kinderwünsche wurden immer wieder vertagt. Manchmal blieb die Wohnung über Wochen kalt, und ich weiß noch, daß ich schon als Kind manchmal nachts nicht schlafen konnte – aus Angst, daß wir die Wohnung verlieren, weil die Miete wieder einmal unbezahlt geblieben war… Wenn ich zurückschaue, dann bleibt vor allem eines: das Gefühl, hilflos – wie ein Spielball – den anderen ausgeliefert zu sein« (Bewohnerin in einem selbstorganisierten Wohnprojekt).

      »Ich habe – schon von Kindheitstagen an – immer mit dem Gefühl gelebt, daß ich nicht mitreden kann, daß meine Meinung nichts wert ist und von den anderen eher als Zeichen für Unwissenheit beurteilt wird. Mein Leben war immer ein Leben im Rückwärtsgang, im Rückzug – angefüllt mit der Angst, mit einer unangepaßten Überzeugung anzuecken. Ich habe erst spät gelernt, eine eigene Überzeugung zu haben, die es wert ist, daß ich für sie eintrete und sie mit Argumenten verteidige« (Aktivistin in einem Nachbarschaftsprojekt zur Verkehrsberuhigung im Stadtteil).

      Diese Selbstaussagen markieren recht deutlich biographische Nullpunkt-Erfahrungen. Zum Ausdruck kommt in ihnen die schmerzliche Erfahrung, »im eigenen Leben nicht zu Hause zu sein«. Von hier ist der Weg nicht weit zu einer frühen Arbeit, die in der Empowerment-Debatte breite Rezeption gefunden hat. Charles Kieffer, Gemeindepsychologe und Leiter eines gemeindebezogenen Kriseninterventionszentrums in Michigan, unternahm Anfang der 1980er Jahre eine Reise in die Lebensgeschichten von Menschen, die für sich (und für andere) Hintertüren aus der Machtlosigkeit gefunden hatten. Transportmittel seiner ethnographischen Reise »nach innen« waren die Lebenserzählungen von Frauen und Männern, die die Schwerkraft entmutigender Nullpunkt-Erfahrungen hinter sich gelassen hatten und zu Aktivposten innerhalb von lokalräumlich gebundenen Selbsthilfe-Initiativen (grassroots-organizations) geworden waren (vgl. Kieffer 1981; 1984). Empowerment-Geschichten sind nach Kieffer dynamische Entwicklungsprozesse in der Zeit, in deren Verlauf Menschen »ein Set von Einsichten und Fähigkeiten entwickeln, das man am besten mit dem Begriff ›partizipative Kompetenz‹ charakterisieren kann« (Kieffer 1984, S. 18). Empowerment ist für ihn eine biographische Reise des sozialpolitischen »Erwachsen-Werdens«. Kieffer beschreibt das Gefühl der Ohnmacht, das die Summe wiederholter und tagtäglich aufs Neue beglaubigter Erfahrungen von Unterlegenheit ist, in folgenden Kürzeln (Kieffer 1984, S. 15ff.):

      • eine Zweiteilung der Welt entlang der Achse von Macht und Gestaltungskraft (»die dort oben, wir hier unten«);

      • eine Weltsicht, in deren Licht die Strukturen der alltäglichen Wirklichkeit unverrückbar und dem eigenen Handeln nicht mehr zugänglich erscheinen; das resignative Akzeptieren des alltäglich Gegebenen;

      • die Geringschätzung des Wertes der eigenen Meinung;

      • das generalisierte Mißtrauen gegenüber einer Umwelt, die als unwirtlich, abweisend und feindlich gesonnen erlebt wird;

      • die Selbst-Attribution von Schuld und Verantwortlichkeit für Lebensmißlingen;

      • das Gefühl des Aufgeliefert-Seins und die Erfahrung der eigenen sozialen Verletzlichkeit;

      • das Gefühl des Abgeschnitten-Seins von Ressourcen der sozialen Einflußnahme und das fehlende Vertrauen in die Möglichkeiten des eigenen Sich-Einmischens;

      • das Gefühl der Zukunftsverschlossenheit.

      Ein Lebenskonto, auf dem vielfältige Erfahrungen von Ausgeliefert-Sein, Hilflosigkeit und Verlust von Umweltkontrolle abgebucht sind – dies also markiert die Nullpunkt-Erfahrungen von Menschen. Freilich: Die oben zitierten Selbstbeschreibungen und Selbstbilder verbleiben noch im Bereich der Deskription. Gehen wir deshalb einen Schritt weiter und fragen nach den Lebensereignissen und Lebenserfahrungen, die an derartige biographische Tiefpunkte führen. Welche Enttäuschungen und Verletzungen sind es, die zu einem signifikanten Verlust von Lebensregie führen? Wie ist der Weg in eine »Kultur des Schweigens«? Gibt es hinter der Idiographie biographischer Ereignisse gemeinsame Muster, die das Entstehen von Machtlosigkeit und scheinbar grenzenloser Hilflosigkeit zu erklären vermögen? Antworten auf diese Fragen gibt uns ein Theoriemuster, das wohl wie kein anderes die psychologische Forschung zu Krisenerleben und Krisenbewältigung angeregt hat: die Theorie der »erlernten Hilflosigkeit« (learned helplessness) des klinischen Psychologen und Depressionsforschers Martin Seligman (zuerst 1975). Das Phänomen der erlernten Hilflosigkeit wurde ursprünglich in tierexperimentellen Untersuchungen zur Angstkonditionierung entdeckt. Hunde wurden in einer Versuchsanordnung zum klassischen Konditionieren