Der besondere Neuigkeitswert der Argumentation von Reckwitz dokumentiert sich dort, wo er die spätmoderne Subjektform des singularisierten Lebens auf die gesamtgesellschaftliche Ebene der sozialen Stratifizierung hebt. Mit dem Bild der »Drei-Drittel-Gesellschaft« findet der Autor eine griffige Formel für jene Transformation der Sozialstruktur, deren Zeugen wir alltäglich sind. Wir leben – so das Argument – in einer kulturellen Klassengesellschaft, in der sich die Klassen im Hinblick auf ungleich verteilte materielle Ressourcen (Einkommen und Vermögen), aber auch und vor allem im Hinblick auf das verfügbare kulturelle Kapital grundsätzlich voneinander unterscheiden. Es werden drei Klassenlagen unterschieden: »Der neuen Mittelklasse mit hohen, meist universitären Bildungsabschlüssen steht eine neue Unterklasse mit niedrigen (oder gar keinen) formalen Abschlüssen gegenüber. Zwischen ihnen befindet sich die alte, nichtakademische Mittelklasse« (Reckwitz 2017, S. 278). (1) Gebildet, kosmopolitisch und hoch qualifiziert: Die neue, kulturell wirkmächtige Mittelklasse verkörpert in reinster Form die spätmoderne Subjektform des singularisierten Lebensstils. Es handelt sich hier um das Milieu jener, die über ein hohes kulturelles Kapital mit meist akademischen Bildungsabschlüssen verfügen und in den Berufen der creative industries im engeren Sinne (Wissenschaft, Internet, Kunst, Design, Marketing usw.) tätig sind. (2) Die alte, im Kern nichtakademische Mittelklasse umfaßt das durchaus heterogene Milieu derer, die sich als unmittelbare Nachfahren des einstmals dominanten Lebensstils der Mittelstandsgesellschaft erfahren, sich gleichwohl im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichem Oben und Unten in der sozialen Defensive begreifen. (3) Die neue Unterklasse schließlich wird gebildet von der geringqualifizierten Dienstleistungsklasse (service class) – ihr gehören an Menschen in einfachen und semiqualifizierten Industrie- und Dienstleistungsberufen, prekär und konjunkturabhängig Beschäftigte, welche in den Fallstricken eines beständig hohen Arbeitsmarktrisikos die Rahmenbedingungen der Hochleistungsökonomie Tag für Tag reproduzieren. Mit dem anschaulichen Begriff »Paternostereffekt« umschreibt Reckwitz die aktuelle Dynamik der Auf- und Entwertungsprozesse, die sich in der Konkurrenz dieser kulturell grundierten Klassen vollziehen. Die neue Mittelklasse etabliert sich aufgrund ihrer umfassenden Verfügung über kulturelle Kapitalien als hegemoniales Milieu, ihr Lebensstil erfolgreicher Selbstverwirklichung wird sozial prämiert. Die Subjekte der neuen Mittelklasse können sich als die Träger der zukunftsprägenden Lebensform begreifen und somit als Maßstab eines gelingenden Lebens, ihre gesellschaftliche Reise ist eine Reise des sozialen Aufstiegs. Anders die Lebensform der neuen Unterklasse und – subtiler – jene der alten Mittelklasse: Ihre gesellschaftliche Repräsentation wie auch subjektive Selbstwahrnehmung sind geprägt durch Erfahrungen der Entwertung – sie werden mehr und mehr zu »Kulturalisierungsverlierern« (Reckwitz 2017, S. 351), da sie der Monopolisierung des kulturellen Kapitals in den Händen der neuen hegemonialen Mittelklasse keine Gegenmacht entgegensetzen können.
Gerade in dieser Beschreibung der Auf- und Abstiegsprozesse kulturell grundierter Klassen geht Reckwitz deutlich über die heute schon klassische Individualisierungstheorie hinaus, wie wir sie bei Beck kennengelernt haben. Jene noch im 20. Jahrhundert formulierte Zeitdiagnose war geprägt vom Bild des »Fahrstuhl-Effektes« – zentral war ihr die Hoffnung, daß die Modernisierung der Gesellschaft für alle und quer durch alle Schichtungen – »jenseits von Klasse und Stand« – einen Mehrwert von Lebenssicherheit und Lebensqualität produziert. Im hier formulierten Bild der »Drei-Drittel-Gesellschaft« geht diese Hoffnung für die Gegenwartsgesellschaft verloren. Es findet eine »Kulturalisierung der Ungleichheit« statt, die Gewinner und Verlierer schmerzlich voneinander trennt. Hier noch einmal der Originalton von Reckwitz:
»Insbesondere (…) Ulrich Beck meint in der nachindustriellen Gesellschaft eine Ablösung der alten sozialen und politischen Großgruppen der Klassen und Stände durch Individualisierungsprozesse ausmachen zu können. Entsprechend nahmen Kultursoziologen für die Postmoderne eine Pluralisierung gleichberechtigter Lebensstile wahr. Aus der heutigen Sicht erweist sich diese herrschaftsfreie Flottierung von Lebensstilen und Individuen allerdings als optische Täuschung. Wir gewinnen jetzt allmählich ein Gespür dafür, dass die Kulturalisierung und die Singularisierung des Sozialen in der Spätmoderne nicht das Ende, sondern den Anfang einer neuen Klassengesellschaft markieren« (Reckwitz 2017, S. 276; Hervorh. d. Verf.).
Requisiten einer gelingenden Individualisierung
Aus der beschleunigten Dynamik der Individualisierungsprozesse ergibt sich ein neues Profil von Anforderungen an das modernisierte Subjekt: Soziales Handeln im Zeichen der Individualisierung ist stets Handeln in Situationen der Unsicherheit. Alte orts- und sozialstabile Bindungen, Selbstverständlichkeiten und Verläßlichkeiten stehen als Sicherheitsleitplanken und Legitimation für einen individualisierten Lebensentwurf nicht mehr zur Verfügung. In dem Maße aber, in dem ehemals verläßliche Sicherheiten unsicher werden, wird der Einzelne selbst zum Planungs-, Entscheidungs- und Aktionszentrum seiner Lebensführung. Soll diese selbstbestimmte Lebensführung aber gelingen und nicht an Divergenz und Widersprüchen scheitern, so setzt dies eine veränderte psychosoziale Ausstattung des Subjektes voraus – eine Lebenssouveränität, die es dem Subjekt möglich macht, den Anspruch der Moderne auf Selbstbemächtigung lebensalltäglich einzulösen. Hier nun ist das Verbindungsstück, das Individualisierung und Empowerment zusammenschließt: Individualisierung – konsequent zu Ende gedacht – bedarf eines Subjektes, das auf Vorräte von (selbstreflexiven, psychischen, sozialen) Kompetenzen zurückgreifen kann, die für eine produktive Nutzung der riskanten Chancen einer individualisierten Lebensführung unentbehrlich sind. Das Individualisierungskonzept liefert so auf der Ebene makrosoziologischer Analyse eine Deutungsfolie veränderter Subjektivität. Das Empowerment-Konzept benennt ergänzend hierzu auf der Ebene mikrosoziologischer Analyse die biographischen Prozesse und Kontexte, in denen die Entwicklung unentbehrlicher Vorräte von Kompetenzen für eine souveräne und eigenmächtige Lebensführung möglich wird. Die Selbstbemächtigung des Subjektes – sei sie nun autonome Selbst-Inszenierung, sei sie das Produkt einer helfenden Beziehung im Handlungszusammenhang institutionalisierter Fürsorglichkeit – ist die notwendige Requisite einer gelingenden Individualisierung. Wie nun diese »inneren Besitzstände« von Kompetenzen aussehen, auf deren Grundlage eine selbstbestimmte Lebensführung in einer unübersichtlichen Welt der Options- und Entscheidungsvielfalt möglich wird, dazu abschließend drei Hinweise:
Multiple Identität und Kohärenz: Individualisierung – dort, wo sie als gelingend und befreiend erfahren wird – erfordert ein in die Zukunft hinein offenes Identitätsprojekt, in dem neue Lebensformen erprobt und eigener Lebenssinn entwickelt werden. Die alltägliche Erfahrungswelt des modernisierten Menschen ist eine Welt multipler Realitäten. Die Lebenswelt zerfällt in ein Bündel von Sinn-Splittern, Rollenarrangements und widersprüchlichen Handlungsanforderungen, die nicht mehr durch einen umfassenden Weltentwurf zusammengehalten werden (es sei denn um den Preis totalitär-geschlossener Welt-Modelle). Eine solche segmentierte und widersprüchliche Alltagswelt erfordert vom Subjekt aber ein ständiges Umschalten