Die Vervielfältigung der Sinn-Welten: Die Erosion der verpflichtenden sozialen Vorgaben und die Erweiterung der subjektiv nutzbaren Freiheitszonen erfaßt zunehmend weitere Kreise der Gesellschaft. In diesem Freisetzungsprozeß aber zerspringt die Sinn-Einheit der Welt. Die großen Sinn-Gebäude (religiöse Glaubensgehäuse; die großen säkularen Weltdeutungen; politische Ideologien jeglicher Couleur), die noch in den ersten Etappen der Moderne Sicherheit und Orientierung stifteten, werden eingerissen (Lyotard spricht hier vom »Ende der Meta-Erzählungen«). Es entsteht ein kaum zu überschauender Sinn-Markt, eine Art kultureller Supermarkt für Weltdeutungsangebote aller Art. In dieser zerspringenden symbolischen Einheit der Welt aber ist der moderne Mensch einer Vielzahl disparater und auseinanderdriftender Sinn-Versprechen, Überzeugungssysteme, Weltdeutungsschemata ausgesetzt, in denen er Ordnung und Struktur schaffen muß, um – zumindest für begrenzte Zeitphasen und Biographiepassagen – Lebenssinn buchstabieren zu können. Der modernisierte Mensch ist »nicht mehr ›zu Hause‹ in einem stimmigen Sinn-Kosmos, er ähnelt eher einem Vagabunden (oder allenfalls einem Nomaden) auf der Suche nach geistiger und gefühlsmäßiger Heimat. Sein Tages- und Lebenslauf ist gleichsam eine unstete und manchmal auch unsichere Wanderung, die er durch die Vielzahl von Sinnprovinzen unternimmt. Er ist darauf angewiesen, die Drehbücher seines individuellen Lebens selber zu schreiben, die Landkarten für seine Orientierung in der Gesellschaft selber zu zeichnen, über seine Biographie, seine Persönlichkeit, sein Selbstverständnis selber Regie zu führen« (Hitzler/Honer 1994, S. 311f.). Diese biographische Reise durch die Vielfalt der Sinn-Provinzen ist wohl eine unsichere Reise. Und dennoch: Sie befreit die subjektive Lebensgestaltung von den Fesseln sozial vorgegebener, verpflichtender Sinnbindungen (Familientradition; Milieu; Religion usw.). Schließen wir hier die Seiten, in denen die Gewinne der Individualisierung eingetragen sind: Die Erosion vorgegebener Biographieschablonen, die Flexibilisierung normativer Bindungen und die Pluralisierung von Sinn-Welten tragen in sich ein befreiendes Moment: Sie sind Bausteine einer reflexiven Lebensführung, in der der Einzelne aus dem Gehäuse normativer Vorgaben austritt und neue Freiheitsgrade in der Gestaltung seiner unveräußerlich eigenen Existenz gewinnt.
Individualisierung transportiert auf der anderen Seite aber auch vielfältige neue Risiken und Gefährdungen. In der aktuellen Debatte finden vor allem diese Schattenseiten der Individualisierung besondere Beachtung. Auf den Verlust-Seiten dieses Bilanzbuches werden u. a. folgende Aspekte eingetragen:
Die neue Rollenvielfalt und Rollenkomplexität: Die Vielzahl und die Heterogenität der Teil-Orientierungen, Teil-Räume, Teil-Zugehörigkeiten, die eine modernisierte Lebensführung kennzeichnen, führen zu einer signifikanten Zunahme von Rollenkomplexität. Das Rollenrepertoire des modernisierten Menschen ist bunter geworden; er muß komplexere und vielfältigere Rollen spielen, welche sich immer deutlicher voneinander unterscheiden, immer geringere Interdependenzen untereinander aufweisen und sich immer rascher ändern. Aber nicht nur die Rollenkomplexität nimmt zu. Mit dem Grad der sozialen Differenzierung vermehren und beschleunigen sich auch die Übergänge von einem Rollensystem zum anderen, von einer Zugehörigkeit zur anderen, von einem sozialen Raum zum anderen – Übergänge, die das Subjekt souverän handhaben muß, will es nicht aus sozialer Teilhabe herausfallen. Nach Lindenberg/Schmidt-Semisch (1995) ist die Welt der Moderne vor allem eine Welt der Übergänge – »eine funktional differenzierte und spezialisierte Gesellschaft, in der jedes der funktional spezialisierten Subsysteme die sozialen, psychischen und physischen Vorgänge in der Welt umfassend, aber hochselektiv mit Blick auf seine spezifische Funktion rekonstruiert… Das Individuum wird dabei in seinen verschiedenen Rollen in den verschiedenen Lebensbereichen mit äußerst verschiedenen Anforderungen, Erwartungen und Normen konfrontiert, denen es gerecht werden muß. Da wir also stets nicht nur einem der gesellschaftlichen Teilsysteme angehören, sondern vielmehr gleichzeitig vielen von ihnen, leben wir in einer permanenten Modulation der Perspektiven, die alle mit ihren jeweiligen Verhaltens- und Sichtweisen, Anforderungen und Präferenzen assoziiert sind. Wir sind gefordert, ständig die Übergänge von der einen in die andere Kontrollperspektive zu bewerkstelligen. Wir leben immer weniger in einer Gesellschaft des Übergangs, als vielmehr in einer Gesellschaft der Übergänge« (Lindenberg/Schmidt-Semisch 1995, S. 8). Mit der Vervielfältigung von Rollenkomplexität und der Beschleunigung von Rollenwechseln aber wächst das Risiko des Scheiterns – Menschen verirren sich im Dickicht unübersichtlich-divergenter Anforderungen, sie fallen aus ihren Rollen.
Orientierungsverlust in einer zerspringenden Einheit der Sinn-Welt: Wir haben es schon angesprochen: Die hochgradige soziale Differenzierung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft führt zu einem collageartigen Nebeneinander einer Vielzahl von Sinn-Provinzen mit je unterschiedlichen, voneinander abweichenden Präferenzen, normativen Verbindlichkeiten, Welt-Sichten.
»Die ›zersprungene Einheit der Welt‹ bewirkt…, daß der moderne Mensch in eine Vielzahl von disparaten Beziehungen, Orientierungen und Einstellungen verstrickt, daß er mit ungemein heterogenen Situationen, Begegnungen, Gruppierungen, Milieus und Teilkulturen konfrontiert ist und daß er folglich mit mannigfaltigen, nicht aufeinander abgestimmten Deutungsmustern und Handlungsschemata umgehen muß. Anders ausgedrückt: Die alltägliche Lebenswelt des Menschen ist zersplittert in eine Vielzahl von Entscheidungssituationen, für die es (nicht trotz, sondern wegen der breiten Angebots-Palette) keine verläßlichen ›Rezepte‹ mehr gibt« (Hitzler/Honer 1994, S. 308).
Der Chance einer selbstreflexiven, den Bedürfnissen und Fähigkeiten der eigenen Person angepaßten Buchstabierung von Lebenssinn steht hier die Gefahr neuer Rigorismen und totalitärer Weltsichten gegenüber. In einer Welt zerrissener Sinnzusammenhänge gewinnen geschlossene Weltmodelle (Ökologischer Rigorismus; Psychomarkt; New Age; alternative Spiritualität; geschlossene politische Ideologiegebäude u. a. m.) und die ihnen zugeordneten Zugehörigkeitskulturen ihre eigene Attraktivität. Sie bündeln die Bedürfnisse, die aus der Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit des Alltags entstehen, sie bieten »klare Lösungen«, verläßliche Sicherheiten und neue Sinnhorizonte. Körber (1989) formuliert aus kritisch-distanzierter Sicht den kleinsten gemeinsamen Nenner dieser geschlossenen Sinn-Welten:
»Alle Formen des regressiven Rückzugs aus einer als unerträglich widersprüchlich empfundenen Gesellschaft in vermeintlich widerspruchsfreie, begrenzte ›Gemeinschaften‹ (partikularistische Kollektivzusammenhänge) haben trotz aller inhaltlichen Unterschiede etwas gemeinsam: Sie entlasten von individuell-subjektiven Autonomieansprüchen und den widersprüchlichen Alltagserfahrungen damit; sie dienen dazu, täuschungs- und enttäuschungsfest zu machen; sie sollen ein für allemal vor dem Risiko selbstzerstörerischer Orientierungs-, Identitäts- und Sinnkrisen schützen« (Körber 1989 zit. n. Keupp 1994, S. 342).
Entscheidungszwang und Eigenverantwortung: Die kaum noch zu überschauende Vielfalt von Lebensoptionen, die auf den Sinn-Märkten angeboten wird, bürdet dem Einzelnen schon frühzeitig ein hohes Maß an Entscheidungszwang auf – Entscheidungen, für die er »geradestehen« und für die er Verantwortung übernehmen muß. Lebensform- und Lebensweg-Entscheidungen (Wahl von Ausbildungs- und Berufswegen; Beziehungsbindungen; Gestaltung sozialer Netzwerke; Formen der subjektiven Teilhabe an Konsum, Lebensstilen usw.) werden in die Hand des Individuums gelegt; der Einzelne ist gezwungen, die eigene Biographie durch aufbrechende Entscheidungsrisiken hindurch selbst zu planen, zu entwerfen, zusammenzuhalten. Individualisierung kann folglich beschrieben werden als ein Zwang, sich in immer wieder neuen biographischen Situationen – im Wechsel der Präferenzen und Sinnmuster und unter dauernder Abstimmung mit vertrauten Menschen, Bildungssystem, Arbeitsmarkt usw. – für bestimmte Lebensoptionen und damit gegen andere (ebenso wählbare und scheinbar beliebig-gleichwertige) zu entscheiden. Diese personalen Auswahlen und Entscheidungen aber müssen in Situationen biographischer Unsicherheit getroffen werden, in denen gültige Kosten-Nutzen-Bilanzen und Zukunftskalkulationen nur schwer möglich sind. Der Einzelne sieht sich in Situationen gestellt, in denen er auch in Zeiten der Unsicherheit selbstverantwortliche Entscheidungen über die eigenen Lebenskurse treffen muß.
Individualisierung – so können wir zusammenfassen – trägt ein Gesicht