Empowerment in der Sozialen Arbeit. Norbert Herriger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert Herriger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170341487
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durch Rückgriff auf privat erstellte, milieukulturelle Solidarleistungen abgefedert werden können.

      • Der Ausbau der formalen Bildung: Die Demokratisierung der Bildung und die immer weitergreifende Teilhabe der jungen Generation (und hier insbesondere der Mädchen und der jungen Frauen: »Feminisierung der Bildung«) am kulturellen Kapital Bildung führt zu einer Demokratisierung und Verallgemeinerung der Fähigkeit zu selbstreferentieller Reflexivität. Dies aber ist Sprungbrett für eine Herauslösung aus traditionellen Denkmustern, Wertorientierungen und Lebensstilen und für die Buchstabierung von Lebensformen, die das Versprechen auf ein Mehr an Selbstbestimmung und Eigenverfügung in sich tragen.

      • Die dynamischen Veränderungen von Anforderungen und Strukturen des Arbeitsmarktes: Die normativen Muster der »Normalarbeitsbiographie«, die noch für ältere Generationen Geltungskraft besaß (der berufslebenslange gesicherte Verbleib in einem gelernten Beruf, in der Regel bei einem Arbeitgeber), erodieren. Die beschleunigten und in ihren Richtungswechseln kaum kalkulierbaren Umbrüche der Arbeitsmarktstrukturen (technologische Veränderungsschübe; Rationalisierung und das Sterben ganzer Arbeitsmarktbranchen; die radikale Entwertung von (Aus-)Bildungsqualifikationen und der darin begründete Zwang zu lebenslangem Weiter-Lernen) produzieren eine strukturelle Offenheit subjektiver Berufsbiographien. Die Berufserfahrungen und berufsbezogenen Wertorientierungen der älteren Generation verlieren an Wert, ihnen eignet kaum noch eine orientierende Kraft. An deren Stelle tritt die Grundqualifikation permanenter Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit als das subjektive Korrelat einer noch weiter zunehmenden Unsicherheit des Arbeitsmarktes.

      • Die Erosion traditionaler Geschlechtsrollenmuster: Die Machttexturen zwischen den Geschlechtern verändern sich. Mit dem Beharren (insbesondere) der Frauen auf »ein Stück eigenes Leben« zerbricht die Normalität althergebrachter Paßformen von Biographieverläufen, Partnerschaft, Elternschaft, Familienalltag. Die Schnittmuster der bürgerlichen Normalfamilie lösen sich auf. An ihre Stelle tritt eine Vervielfältigung der Lebensweg- und Lebensstil-Optionen wie auch eine Pluralisierung wählbarer Formen des Zusammenlebens.

      • Der Zwang zu geographischer Mobilität und Raumsouveränität: Die Mobilitätszwänge, die mit der Veränderung des Arbeitsmarktes verbunden sind, machen vielfältige Arbeitsplatz-, Orts- und Beziehungswechsel notwendig. Sie produzieren damit durchaus ambivalente Effekte: auf der einen Seite die Chance einer (allerdings von Arbeitsmarktdiktaten regierten) durchgreifenden Verselbständigung der Lebenswege, auf der anderen Seite das Risiko einer fundamentalen Vereinzelung und Vereinsamung. Die beschleunigte Segregation der alltäglichen Lebensräume (Räume der Arbeit, der Privatheit, der Freizeit, der öffentlichen Partizipation), die alle und jeder für sich nach eigenen Regeln, Routinen und Reglements funktionieren, stellt das Individuum zudem vor die Notwendigkeit permanenter und souveräner Raumwechsel und Regelanpassungen.

      • Die Modernisierung der Wohnformen und der territorialen Identität: Prozesse der horizontalen Mobilität, die durch die Modernisierung städtischer (Teil-)Räume ausgelöst werden (die »Vertreibung« von Wohnfunktionen durch Dienstleistungsfunktionen; Mobilitätswellen, die durch eine »vertreibende Sanierung« und durch Mietpreissprünge ausgelöst werden usw.), führen zu einer Lockerung der territorial gebundenen Sozialbeziehungen und zur Auflösung traditioneller Nachbarschaftsmilieus. Die Anonymisierung des Zusammenwohnens und die Aufkündigung von Nachbarschaftshilfen sind sichtbarste Ausdrucksformen dieses Verlustes von räumlich gebundener Identität und Zusammengehörigkeitserfahrungen.

      Riskante Chancen – die Ambivalenz der Freisetzung: Ein individualisiertes Leben trägt stets ein Doppelgesicht – es ist ein Jonglieren zwischen neuen Freiheitschancen und radikaler Verunsicherung, zwischen gelingender Lebenssouveränität und biographischem Schiffbruch. In der Literatur finden sich zwei kontroverse Meinungslager, in denen je optimistische Zukunftsoffenheit bzw. düstere Weltuntergangsstimmung überwiegen: Von den einen wird Individualisierung so als Überwindung vorgefertigter normativer Entwicklungsschablonen interpretiert und als neue Ressource von Emanzipation gefeiert; von den anderen hingegen wird Individualisierung als ein schmerzlicher Verlust von Basissicherheiten der individuellen Lebensführung beklagt und bedrohlich erfahren. Auch Hitzler und Honer verweisen auf dieses Janusgesicht der Individualisierung:

      »Ein individualisiertes Leben zu leben bedeutet, existentiell verunsichert zu sein. Existentiell verunsichert zu sein, bedeutet nicht notwendigerweise, unter dieser Existenzweise zu leiden. Es bedeutet ebensowenig, dieses Leben zwangsläufig zu genießen. Ein individualisiertes Leben ist ein ›zur Freiheit verurteiltes‹ Leben… Der individualisierte Mensch ist nicht nur selber ständig in Wahl- und Entscheidungssituationen gestellt, sondern auch mit immer neuen Plänen, Entwürfen und Entscheidungen anderer Menschen konfrontiert, welche seine Biographie mehr oder weniger nachhaltig tangieren. Diese biographischen Freisetzungen zeigen sowohl einen Gewinn an – den Gewinn an Entscheidungschancen, an individuell wählbaren (Stilisierungs-)Optionen – als auch einen Verlust – den Verlust eines schützenden, das Dasein überwölbenden, kollektiv und individuell verbindlichen Sinn-Daches« (Hitzler/Honer 1994, S. 307).

      Blättern wir zunächst einmal in den Gewinn-Seiten dieser Gegenwartsbilanz: Individualisierung kann – in optimistischer Sichtweise – begriffen werden als Befreiung von traditionellen Kontrollbindungen, Erweiterung von Möglichkeitsräumen, Stärkung der individuellen Entscheidungsmöglichkeiten – Individualisierung also als Chance einer von traditionalen sozialen Reglementierungen befreiten Lebensgestaltung. Diese Freiheitsgewinne werden in folgenden Facetten sichtbar:

      Die Abkehr von der Schwerkraft traditionaler sozialer Verpflichtungen: Die Lebensmodelle, die durch die Vorbilder der Eltern, durch generationenübergreifende Familientraditionen und durch milieuspezifische Wertbindungen vorgegeben waren, erodieren. An die Stelle der ehemals fest vorgegebenen und durch sozialen Zwang bewachten Entwicklungsschablonen, die der Einzelne sich fraglos aneignete und innerhalb deren Grenzen er seine Biographie einrichtete, tritt heute ein buntes Kaleidoskop von Möglichkeiten der Selbstgestaltung, die Lebens-Neuland betreten und die Schwerkraft traditionaler sozialer Verpflichtungen hinter sich lassen (die Chancen des »Es-anders-machen-Könnens«). Deutlich wird dies mit Blick auf die Relation zwischen den Generationen. Hier vollziehen sich signifikante intergenerative Desintegrationsprozesse. Die Erfahrungsgeschichten und Lebensentwürfe der Eltern eignen sich für junge Menschen heute immer weniger als Interpretationsfolie für die Gestaltung des eigenen Lebensweges. Dies gilt zunächst einmal für die Zukunftsprogramme des Zusammenlebens, die junge Menschen für sich selbst entwerfen. Im Unterschied zur »Normalbiographie« der Eltern werden in der jungen Generation die Bezugsgrößen des eigenen Familienprojektes wie z. B. die Bedeutung der Ehe, die Buchstabierung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilungen, die Realisierung des Kindeswunsches, die Synchronisierung von Berufsambitionen und Familienarbeit fließend. Aber auch die Bildungs- und Berufsgeschichten der Eltern können den jungen Menschen heute kaum noch Vorbild sein. Die Vervielfältigung der Bildungswege und die damit verbundene größere Erreichbarkeit von höherwertigen Bildungszertifikaten, zugleich aber auch die unkalkulierbare Veränderungsdynamik des Arbeitsmarktes, das beschleunigte Veralten von Arbeitsqualifikationen und der Zwang zu lebenslangem Neulernen – alles dies läßt die bildungs- und berufsbezogene Biographie der Eltern als untaugliche Modelle erscheinen und öffnet die biographischen Entwürfe der jungen Generation für neue (immer auch unsichere) Projekte einer eigen-willigen Selbsterfindung, die die Schwerkraft von Familienbindung, Milieu und Stand hinter sich lassen.

      Die Pluralisierung der normativen Koordinaten: Die normativen Horizonte, in denen Menschen ihr Leben einrichten, öffnen sich. Jenseits der (bis heute recht restriktiv abgesteckten) Grenzen des Strafrechtes pluralisieren sich die prinzipiell wahloffenen Wertehorizonte und die daran gebundenen Kulturen alltäglicher Lebensführung. Werte und Normen verlieren mehr und mehr ihre gesellschaftliche Integrationsfunktion und garantieren nicht mehr eine generalisierte und konsensfähige Wertordnung, sondern bündeln sich in personen-, situations- und kontextabhängigen Mikro-Kosmen normativer Verpflichtungen. Wir erfahren eine Wertedynamik, in der ein nomozentrisches Weltverständnis, das auf die ordnende Kraft universaler normativer Regelungen vertraut, von einem autozentrischen Weltverständnis abgelöst wird. Werte und Normen werden in diesem Prozeß zu gefügigen, dem variablen Alltag angepaßten, alltagstauglichen Werkzeugen. Ihre ehemals feststehende, universale Bedeutsamkeit zersplittert