Lebenssouveränität und selbstbestimmte Lebensführung stoßen hier an sozialstrukturelle Grenzen, die auf überindividuell wirksame Webmuster sozialer Ungleichheit verweisen und die nur in Wege einer tiefgreifenden sozialpolitischen Reform zu überwinden sind.
3.2 Der Defizit-Blickwinkel: Inszenierungen der Hilfebedürftigkeit in der Sozialen Arbeit
Erfahrungen der Hilflosigkeit, der Demoralisierung und der Ohnmacht sind immer wieder das Ausgangsmaterial für die institutionalisierte helfende Beziehung. Es sind dies Erfahrungen von Krise und subjektiver Niederlage. Die betroffene Person erlebt, daß sie »die Kontrolle verliert«, daß ihr relevante Sektoren der Lebenswelt »aus den Händen gleiten«, daß also situative Handlungsanforderungen der Umwelt mit den aktuell verfügbaren personalen und sozialen Ressourcen nicht mehr bewältigt werden können. Mit jedem neuen Arbeitskontrakt begegnet die Soziale Arbeit so Menschen, die sich in einer Situation der Niederlage befinden und die vielfach schon über lange Weg- und Zeitstrecken hinweg in einer Nullpunkt-Situation verharren. Die Endpunkte biographischer Erfahrungsgeschichten, in denen alle Versuche des privaten Lebensmanagements immer wieder aufs Neue in Hilflosigkeit, Ohnmacht und Abhängigkeit münden, sind so Startpunkt der institutionellen Hilfe.
Die Erfahrungen von Hilflosigkeit, die die Klienten in die helfende Beziehung einbringen, sind zunächst einmal biographisch eingefärbtes privates Problemmaterial. Dieses Problemmaterial ist keineswegs eindeutig definiert und für die Praktiker bruchlos interpretierbar. Um gegenüber dem Einzelfall handlungsfähig zu werden, bedarf es daher zunächst einmal einer spezifischen »Übersetzungsarbeit«: Diese privaten Probleme müssen über Prozesse selektiver Interpretation und Bedeutungszuschreibung in »behörden-offizielle« Probleme übersetzt werden. Sie müssen von den Mitarbeitern sozialer Dienste in institutionell und professionell anerkannten Problemschubladen untergebracht und auf die Formate »gängiger Standardprobleme« zugeschnitten werden, für die institutionell programmierte Interventionsverfahren verfügbar sind. Erst dort, wo diese institutionelle Präparierung des Falls gelingt und die vom Klienten eingebrachten lebensweltlichen Schwierigkeiten über Prozesse interpretativer Bearbeitung in »relevante und bearbeitbare Standardprobleme« übersetzt werden können, gewinnt der berufliche Helfer Handlungsfähigkeit gegenüber dem je konkreten Fall und vermag ihn in routinemäßiger, oft standardisierter Form zu bearbeiten (zur empirischen Analyse dieser interpretativen Prozesse der Klientifizierung vgl. Messmer 2013; Messmer/Hitzler 2007).
Die beruflichen Helfer greifen bei dieser institutionellen Präparierung von Fällen auf die Inventare ihres berufsbezogenen Alltagswissens zurück. Mit dem Begriff des berufsbezogenen Alltagswissens wollen wir jene Bestände an berufspraktischen Vorstellungen, Kenntnissen, Erwartungen und alltagstheoretischen Erklärungskonzepten kennzeichnen, auf die die Sozialpraktiker sich beziehen, um die wechselnden Situationen ihres beruflichen Alltags zu bewältigen, ihre tagtäglichen Probleme zu ordnen und ihr problemlösendes Handeln zu organisieren. Dieses Inventar des Alltagswissens, das sich im Verlauf der beruflichen Sozialisation und des beruflichen Alltags herausbildet und mit dessen Hilfe die Praktiker ihre Handlungssituationen sicher strukturieren, besteht nur zu einem geringen Teil aus reflektierten Aussagesystemen (z. B. eine begründete Theorie sozialer Probleme). Eingetragen sind in das Alltagswissen zu größeren Teilen grundlegende persönliche Überzeugungen, im Alltagsleben verbreitete Common-Sense-Deutungen und »immer schon bewährte« Erfahrungen, die in der Abarbeitung von berufspraktischen Aufgaben geschöpft worden sind. Diese Wissensbestände bilden einen situationsunabhängig-stabilen kognitiven Hintergrund, der es den Praktikern erlaubt, die Komplexität ihrer beruflichen Wirklichkeiten aufzuordnen und Sicherheit in der Bewältigung von Alltagsangelegenheiten zu gewinnen. Sie tragen den Charakter unbezweifelter Gewißheit und konstituieren einen Horizont selbstverständlicher Hintergrunderwartungen, in den typisierte Vorstellungsbilder im Hinblick auf durchschnittliche Erscheinungsweisen und Verursachungen von Hilflosigkeit, geeignete Interventionsformen und prognostizierbare Resozialisierungschancen u. a. m. eingetragen sind.
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