Empowerment in der Sozialen Arbeit. Norbert Herriger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert Herriger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170341487
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des eigenen Lebens – so lautet die Botschaft der Sozialen Bewegungen – ist das Produkt der selbstaktiven Felder solidarischer Selbstorganisation. Mit ihrer Akzentuierung von solidarischer Vernetzung, Selbstorganisation und politikwirksamer Selbstvertretung formulieren diese bürgerschaftlichen Bewegungen »zwischen den Zeilen« eine radikale Absage an den Defizit-Blickwinkel, der die (politische und pädagogisch-praktische) Wahrnehmung von Menschen jenseits der Grenzen gesellschaftlicher Inklusion über lange Zeitstrecken hinweg geprägt hat. Diese Menschen werden hier nicht mehr allein im Fadenkreuz ihrer Lebensunfähigkeiten und Hilflosigkeiten wahrgenommen. Im Zentrum stehen vielmehr ihre Stärken und Fähigkeiten, im solidarischen Bündnis mit anderen auch in Lebensetappen der Schwäche und der Demoralisierung eine produktive Lebensregie zu führen und gestaltend die Umstände und Situationen der eigenen Lebenspraxis zu modellieren.

      Die Relationen zwischen Sozialen Bewegungen und beruflicher Sozialer Arbeit waren und sind nicht einfach: Die Sozialen Bewegungen begegnen der institutionalisierten Fürsorglichkeit vielfach mit Grenzziehung und kritischer Distanz. Die Ablehnung einer entmündigenden sozialen Expertokratie, die Kritik an einer ungebremst voranschreitenden Verrechtlichung und Verbürokratisierung mitmenschlicher Hilfen und der Ruf nach dem Ende einer staatlichen Kolonisierungspolitik, die unter dem Deckmantel pädagogisch-therapeutischer Assistenz ihre Interventionen in immer neue Reviere des Alltags trägt – alle diese Kritikformen, die »common ground« der unterschiedlichen Spielarten sozialer Bewegungen sind, verweisen die Soziale Arbeit in das Lager der Gegner. Wenngleich also vielfach der Eindruck einer unversöhnlichen Gegnerschaft vorherrscht – es gibt Brückenschläge. Das von den Sozialen Bewegungen ausgearbeitete Konzept von Empowerment hat in der Sozialen Arbeit deutliche Spuren hinterlassen. Wir können diese Spuren an zwei Orten auffinden:

      (1) Solidarische Professionalität – die Entwicklung einer neuen Kultur des Helfens: Spuren der Veränderung werden vor allem im Umbau des professionellen Selbstverständnisses der Sozialen Arbeit sichtbar. Die Soziale Arbeit nimmt – noch zögernd und erprobend – Abschied von der Expertenrolle, sie verläßt die bislang sicheren Bastionen hoheitlicher Eingriffsrechte und Kontrollbefugnisse. Die pointierten und in ihrer Radikalität vielfach auch überzeichneten Absagen an die Hegemonie der Experten, wie sie von den Vertretern der sozialen Reformbewegungen vorgetragen worden sind, haben eine Erfahrung klar konturiert: Die Soziale Arbeit bedarf, will sie erfolgreich sein, der produktiven Mitarbeit ihrer Adressaten. Eine solche produktive Kooperation aber läßt sich nicht zwangsverordnen; sie ist unter den Bedingungen struktureller Zwangsmacht nicht herstellbar. Für die Soziale Arbeit bedeutet dies aber die Notwendigkeit, auf die Insignien von Expertenmacht zu verzichten und sich in der helfenden Beziehung mehr und mehr auf einen Interaktionsmodus konsensorientierter Aushandlung einzulassen. Die psychosoziale Praxis kann sich nicht länger auf verbriefte Eingriffsbefugnisse zurückziehen. Sie muß vielmehr die authentischen Problemerfahrungen, Situationsdefinitionen und Lösungsperspektiven ihrer Adressaten aufgreifen und sich stets aufs Neue der Übereinstimmung zwischen dem pädagogischen Handeln und der subjektiven Intentionen und Interessen der Betroffenen versichern. Eine situationsnahe Sozialarbeit ist immer weniger in der Lage, die Probleme der Adressaten ihres Handelns und ihre Interventionsstrategien vom grünen Tisch aus zu definieren und zu konzipieren. Sie muß sich mehr und mehr auf Aushandlungsprozesse mit ihren Adressaten einlassen und den lebensweltlichen Gebrauchswert ihrer Interventionsstrategien und Dienstleistungsangebote sicherstellen. Was hier als Ziel formuliert wird, das ist nicht weniger denn die Entwicklung einer neuen Kultur des Helfens – und zugleich die Formulierung einer solidarischen Professionalität, die das Selbstbestimmungsrecht der Adressaten und die Anerkennung ihrer Lebensentwürfe auch dort, wo diese aus den Normalitäts- und Toleranzzonen der beruflichen Helfer herausfallen, zum Fundament beruflichen Handelns macht. Diese neue Kultur des Helfens ist somit getragen von der Anerkennung des Eigen-Sinns des Adressaten und der Autonomie seiner Lebenspraxis. Nicht das Zuschneiden alltagsweltlicher Lebensentwürfe auf die Schnittmuster einer »durchschnittlichen« Normalität ist hier Programm, sondern die Förderung und die Unterstützung einer vom Adressaten sozialer Hilfe nach eigenen Maßstäben buchstabierten Lebenssouveränität.

      (2) Engagierte Parteilichkeit – Allianzen zwischen Sozialer Arbeit und Sozialen Bewegungen: Die Geschichte des Empowerment-Konzeptes ist immer auch die Geschichte von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sozialer Dienste und Einrichtungen, die in engagierter Parteilichkeit für die Belange dieser Reformbewegungen eingetreten sind und in diesen Bewegungen eine eigene berufliche Identität als gesellschaftsverändernde Akteure formuliert haben. In den USA nahmen Sozialarbeiter teil an der Bürgerrechtsbewegung, an den Anti-Armutskampagnen, an der Friedensbewegung, an der Projektkultur des Feminismus und der Selbsthilfe-Bewegung, an den Programmen zur Verbesserung ökologischer Lebensqualität und gemeindlicher Selbstorganisation. Und auch in der Bundesrepublik sind die Erfolgsgeschichten der sozialen Bewegungen (Frauen-, Ökologie- und Gesundheitsselbsthilfe-Bewegung wie auch die vielen Projekte im Alternativen Sektor und im Bereich der gemeindenahen psychosozialen Dienstleistung) eng mit dem parteilich-unterstützenden Engagement sozialer Professionals verbunden. Im Mittelpunkt steht hierbei stets die programmatische Forderung, daß die beruflichen Helfer sich aktiv in die Lösung gesellschaftspolitischer Probleme einbeziehen und so zu »campaigners«, »Agenten des sozialen Wandels«, zu »politischen Aktivisten«, zu »teilnehmenden Konzeptbildnern und Mediatoren« werden sollen. Im Mittelpunkt steht auch die Einsicht, daß die Modellfigur des wertneutralen Experten eine ideologische Fiktion ist, daß die Soziale Arbeit vielmehr gerade dort, wo sie explizite Wertentscheidungen vermeidet und auf die Leitplanken ausformulierter berufsethischer Standards verzichtet, zum Träger unreflektierter Interessen wird und stillschweigend Partei ergreift. Auch wenn aus heutiger Sicht viele der in früheren Jahren vertretenen Positionen einen naiv-idealistischen Anstrich haben mögen (die Überschätzung der Spannweite staatlicher Reformbereitschaft; die mangelnde Antizipation der neuen Knappheitsrelationen wie z. B. wachsende Staatsverschuldung und Finanzkrise, Rationalisierung der Arbeitswelt und beschleunigte »Freisetzung« von Arbeitsvermögen; die Erweiterung der Armutspopulation), so ist der sozialarbeiterischen Identität doch das explizite Eintreten für gesellschaftliche Veränderungen als Bedingung für die Verbesserung individueller Entfaltungsmöglichkeiten geblieben.

      Die Entwicklung der Neuen Sozialen Bewegungen im deutschsprachigen Raum ist – bei allen kulturellen, politischen und sozialen Differenzen gegenüber den USA – in weitgehend parallelen Spuren verlaufen. Die bunten Spielarten der Neuen Sozialen Bewegungen (Gender-Bewegung; Friedensbewegung; Ökologiebewegung und Klimaprotest; Alternative Kultur u. a. m.) – so divergent und schnelllebig sie auch sein mögen – transportieren Kultur- und Demokratiemuster, die den engen Panzer einer weitgehend sozialtechnisch ausgerichteten politisch-administrativen Expertokratie aufgebrochen haben und die gerade jenen Bevölkerungsgruppen, die in der Vergangenheit sprachlos waren, neue Freiräume der Artikulation und der Teilhabe eröffnet haben. Zu diesen »Errungenschaften« zählen u. a.: die Erweiterung der gesellschaftlichen Toleranzzonen im Hinblick auf Eigen-Sinn, Differenz und Pluralität von Lebensstilen, die den Mainstream einer verkrusteten Normalität hinter sich gelassen haben; die Entlegitimierung einer »Politik der Arroganz«, in der die Herrschaftsansprüche einer technokratischen Problemlösungsexpertokratie in Politik, Verwaltung und sozialer Dienstleistungsbranche deutlich sichtbar werden, und die Formierung von bürgerschaftlicher Gegenmacht; die Stärkung von partizipativen und basisdemokratischen Verfahren in der Arena öffentlicher Meinungsbildung und politischer Entscheidung (vom Bürgerentscheid für die Errichtung einer bestimmten Schulform über den Widerstand gegen die Macht der Banken bis hin zu den aktuellen wirkmächtigen Klimaprotesten rund um den Globus). In der Zwischenzeit liegen einige mit Gewinn zu lesende Untersuchungen vor, die die kulturellen Verwerfungen und strukturellen Wandlungen, welche von den Neuen Sozialen Bewegungen ausgelöst worden sind, in detaillierten historischen Rekonstruktionen vermessen (vgl. Roggeband/Klandermans 2018; Roose/Dietz 2016; West 2013).

      Gehen wir nun einen Schritt weiter und fragen nach den theoretischen »Wahlverwandtschaften«, die das Empowerment-Konzept und andere Konzepte der aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskussion miteinander verbinden. In den Mittelpunkt tritt hier vor allem ein theoretisches Denkgebäude: die Individualisierungstheorie. Wir wollen im Folgenden in wenigen Pinselstrichen die Verknüpfungslinien