Kampagnen zur Bildung eines politischen Bewußtseins
Großen Einfluß auf die Formulierung der Empowerment-Praxis in den USA hatten schließlich auch die Arbeiten des brasilianischen Pädagogen und Sozialreformers Paulo Freire (vgl. Freire 1973; 2001ff.; weiterführend Dabisch/Schulze 1991; Funke 2010). Zu Anfang der 1960er Jahre begann Freire in den Gemeinden der brasilianischen Landbevölkerung sein Programm der Alphabetisierung und der politischen Mobilisierung. Ganz in der Tradition einer aufklärenden Pädagogik stehend ging die Zielsetzung dieses Programms über das Lernen von Lesen und Schreiben hinaus. Ziel war es, über die »De-Codierung von Schlüsselwörtern« (z. B. »Lohn«; »Arbeiterschaft«; »Kapital«) die in Sprache eingelassenen realen Lebensverhältnisse der Landbevölkerung zu thematisieren und strukturelle Muster der Entmündigung und der Unterdrückung zu dechiffrieren. Die Erfahrungen dieser ersten Aufklärungskampagnen, die Freire dann in den 1970er Jahren im Auftrag des Weltkirchenrates/Genf in eine Vielzahl von weiterführenden Programmen in Lateinamerika und Afrika übersetzte, sind das Basismaterial auch für sein theoretisches Projekt. Im Mittelpunkt steht hier das »Konzept der Bewußtseinsbildung« (conscientization), das zugleich auch sein Verständnis des Auftrages von Erziehung spiegelt. Erziehung ist nach Freire stets ein interessengeleitetes, normatives Unternehmen. Die Aufgabe von Erziehung ist es im Spiegel dieses Verständnisses, Menschen das Werkzeug an die Hand zu geben, durch das sie ein kritisch-analytisches Verständnis ihrer Welt gewinnen und zu Subjekten der sozialen und politischen Selbstgestaltung werden können. Kritisches Wissen und die Fähigkeit zur Gestaltung von Lebenswelt sind aber keine Importe eines pädagogischen Experten – sie müssen vielfach gar gegen ein pädagogisches Programm durchgesetzt werden, das erforschendes Lernen stillstellt und so Komplize einer Ideologie der Unterdrückung ist. Kritisches Wissen und Gestaltungskraft sind vielmehr Qualifikationen, die im dialogischen Lernen mit anderen Menschen in gleicher Situation kollektiv generiert werden. Das Konzept der Bewußtseinsbildung bezeichnet so einen »Prozeß, in dessen Verlauf Menschen – nicht als Empfänger (von ›pädagogischer Ware‹; N. H.), sondern als kundige Subjekte – sich ein vertieftes Verständnis der sozialen Realität erarbeiten, die ihre Lebensaktualität formt, wie auch die Fähigkeit gewinnen, die Wirklichkeit zu transformieren« (Silva 1979 zit. n. Simon 1994, S. 140).
Freire formuliert für seine aktivierende Gruppenarbeit eine »Methodologie der drei Schritte«: (1) Engagiertes Zuhören: In dieser ersten Phase geht es darum, die Mauer des Schweigens einzureißen und Anstöße für eine Erinnerungsarbeit zu geben, in der die biographische Geschichte als Teil einer kollektiven Geschichte aufscheint. Diese Erinnerungsarbeiten aller Beteiligten verdichten sich in der Formulierung gemeinsamer Problemthemen, der Festlegung von Prioritäten und der Buchstabierung von Schrittfolgen der Problembearbeitung. (2) Problemanalytischer Dialog: Der kritische und befreiende Dialog bedient sich sogenannter »Codes«. Codes – das sind nach Freire Repräsentationen und Vergegenständlichungen der kollektiven, sozialräumlich verorteten Lebensprobleme. Rollenspiele, Video-Dokumentationen des Barrios, das Durchforsten von Archiven, investigative Interviews mit Bezugspersonen der eigenen Lebenswelt, Zeitzeugen, lokalen Schlüsselpersonen u. a. m. sind Mittel zur Erstellung dieser Codes. Im problemanalytischen Dialog funktionieren diese Codes als Projektionsflächen für kollektive Lebenserfahrungen. Mit ihrer Hilfe werden Feindiagnosen multipler Problemfacetten erarbeitet, neue Fäden einer sozialen Verbundenheit zwischen den Bewohnern hergestellt und handfeste Visionen einer Veränderung lokalräumlicher Lebensqualität formuliert. (3) Soziale Aktion: In dieser letzten Phase vergegenständlicht sich das kollektiv generierte kritisch-analytische Wissen in sozialer Aktion.
»Die Menschen testen ihre analytischen Denkgebäude in der wirklichen Welt; sie treten ein in einen erweiterten Kreis der Reflexion, der den Input neuer Erfahrungen aus ihrem experimentellen Handeln einschließt. Diese beständige Spirale von Aktion-Reflexion-Aktion ermöglicht es den Menschen, in diesen kollektiven Versuchen der Veränderung neue Lernerfahrungen zu sammeln und ein vertieftes Engagement in der Bearbeitung kultureller, sozialer und historischer Lebensbarrieren zu entwickeln« (Wallerstein/Bernstein 1988, S. 383).
Die hermetische Dichte von Armut und Marginalisierung, die die Lebenssituation der Bewohner der Favelas Lateinamerikas damals wie heute prägt, macht nach Freire eine vollständige (und schon gar eine kurzfristige) Realisierung von Lebensvisionen nur schwer erreichbar. Wenngleich sich also die Grenzen eines eingezäunten Lebens nur schwer erweitern lassen, so setzen diese Prozesse kognitiven, emotionalen und strategischen Lernens, in denen eine eingeübte Kultur des Schweigens und feste Muster der Selbstattribution von Versagen, Schuld und Inkompetenz aufgebrochen werden, doch Zukunftsperspektiven eines besseren Lebens frei, die – in weiten Zeithorizonten – Motor für Lebensveränderung sein können. In seinem Nachruf faßt McLaren (1997) das pädagogische Lebenswerk von Paulo Freire in folgende Worte:
»Freires Alphabetisierungskonzeption basiert auf der Anerkennung der jeweils vorhandenen Volkstraditionen und ihrer kulturellen Grundlagen, sowie auf der Einsicht, daß die Konstruktion von Wissen ein kollektives Projekt ist. Indem Freire die gesellschaftstheoretischen Basiskategorien wie Geschichte, Politik, Ökonomie und Klasse mit theoretischen Konzepten von Kultur und Macht verband, entwickelte er sowohl eine Sprache der Kritik als auch eine Sprache der Hoffnung, die sich im dialektischen Bezug wechselseitig stärken und die nachweisbar dazu beigetragen haben, daß Generationen entrechteter Menschen sich selbst befreien konnten… Er gab dem Wort ›Pädagoge‹ eine neue Bedeutung, indem er diesen Begriff multiperspektivisch erweiterte: der Pädagoge – ein intellektueller Grenzgänger, sozialer Aktivist, kritischer Forscher, Sozialisationsagent, radikaler Philosoph und politischer Revolutionär. Mehr als jedem anderen Pädagogen dieses Jahrhunderts ist es Freire gelungen, eine Pädagogik des Widerstandes gegen die Unterdrückung zu entfalten« (McLaren 1997, S. 288).
Dieses Konzept einer »Pädagogik der Bemündigung« hat nicht nur in der Dritten Welt weiterführende gemeinwesenorientierte Empowerment-Projekte inspiriert. Es hat auch in der Ersten Welt Niederschlag in Schulprogrammen (Shor 1987), Gesundheitserziehung (Wallerstein 1992; 1993) und Theaterpädagogik (Haug 2005) gefunden.
Ziehen wir eine erste Zwischenbilanz: Die Geschichte des