• Die Ausübung eines sozialpolitisch relevanten Einflusses: Interessenvertretung und die Ausübung eines Gegengewichtes gegenüber der anbietergesteuerten Ausgestaltung von gesundheitlichen und sozialen Dienstleistungen; eine authentische Bedürfnisartikulation und Selbstvertretung nach außen; die Einforderung von Partizipationsrechten in der Arena der politischen Entscheidung und der praktischen Implementation von Dienstleistungsprogrammen.
Die Selbsthilfe-Bewegung hat im angloamerikanischen Raum und mit einiger Zeitverzögerung dann auch in der Bundesrepublik insbesondere auf drei Schauplätzen eine besondere Bedeutung gewonnen:
(1) Gesundheitsselbsthilfe: die Selbstorganisation von chronisch kranken und behinderten Menschen, die – eingebunden in schützender Gemeinschaft – neue Ressourcen der Krankheitsbearbeitung und der Lebensgestaltung schöpfen (personaler Aspekt: Selbst-Aktualisierung) und zugleich im Sinne einer advokatorischen Interessenvertretung nach außen einen Abbau von Webmustern der Entmündigung in Rehabilitationsmedizin, Pflegeversorgung und Alltagsunterstützung einfordern (sozialpolitischer Aspekt: versorgungspolitische Partizipation) (vgl. Danner/Meierjürgen 2015; Meggeneder 2011).
(2) Autonom-Leben-Bewegung (Independent-Living) von Menschen mit Behinderung: die Selbstorganisation von Menschen mit Behinderung, die sich gegen die entmündigenden Strukturen einer »behindernden Umwelt« (baulich-architektonische und vorurteilsgeprägte soziale Barrieren; eine Rehabilitationsmedizin, die eine Unterordnung des gesamten Lebensvollzugs unter therapeutische Reglements erzwingt; die Dauerabhängigkeit von den Pflegeleistungen und Alltagshilfen Dritter; die Ausgrenzung des behinderten Arbeitsvermögens in den Sonder-Arbeitsmarkt der Werkstätten für Behinderte) zur Wehr setzt und in allen diesen Lebenskreisen ein Mehr an Selbstbestimmung und autonomer Lebensgestaltung einfordert (vgl. Charlton 2004; Fleischer/Zames 2011; Theunissen 2013a).
(3) Selbsthilfe von Menschen mit Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen: die eigeninitiierte Stärkung von Personen und Communities, denen aufgrund von diskreditierenden Konstruktionen personaler Merkmale (Intersektionalität von race, class, gender, Sexualität, Behinderung, Alter) eine vollwertige soziale, rechtliche und politische Teilhabe verwehrt wird. Diese Selbstorganisation von Menschen, welche von rassistischer Segregation und struktureller Diskriminierung betroffen sind, vollzieht sich in »geschützten Räumen« (safe spaces), in denen eine achtsame, verletzungs- und hierarchiefreie Kommunikation, die Reflexion verinnerlichter Unterdrückung und der Entwurf alternativer Denk- und Handlungsoptionen ihren Ort haben (vgl. Can 2013; Castro Varela 2011; 2019).
»Community Action«-Programme und Gemeindepsychologie
Nachbarschafts- und gemeinwesenbezogene Projekte haben in den USA eine lange Tradition. Denn: Früher schon als in anderen entwickelten Staaten wurden hier die sozialen Erschütterungen einer tiefen Spaltung der Stadt sichtbar – soziale Segregationsprozesse entlang der scharfen Grenzen von ethnischer Herkunft und ökonomischem Status, die sich frei von Interventionen und Kanalisierungen der Stadtentwicklungsplanung ungebremst vollzogen. Diese Programme, die sich gegen diese Prozesse der Segregation und der darin eingelagerten Verelendung städtischer Teilräume zur Wehr setzten, variieren in ihren Graden von Radikalität. Am äußersten linken Rand des politischen Spektrums angesiedelt sind die Projekte der »radical community work«, deren Tradition vor allem mit dem Namen Saul Alinsky (1974; 1984; 2010) verbunden ist. Alinsky begann bereits in den 1930er Jahren in den Slums von Chicago, Mieterorganisationen und lokal verortete Bürgerrechtsgruppen aufzubauen. Community-Arbeit ist für ihn eine Technik des sozialen Widerstands – der Versuch von Menschen, sich in solidarischer Organisation ein Stück Macht anzueignen, um die Unterdrückungsmechanismen, die für menschenverachtende Lebensumstände verantwortlich sind, aufzubrechen. Die beiden Säulen seiner politischen Mobilisierungsarbeit sind: die Bildung von »Macht-Koalitionen« (power coalitions) quer durch die Trennungslinien sozialer und ethnischer Segregation und die Entwicklung von »konfrontativen politischen Durchsetzungsstrategien« (confrontative strategies), die die Legitimität staatlicher und kommunaler Wohlfahrts- und Housing-Programme herausfordern und durch die Schaffung eines breiten Umfeldes von Zustimmung und Unterstützung auch in Bevölkerungskreisen mit nur mittelbarer Betroffenheit eine staatliche »Politik der Nicht-Beachtung« auf den Prüfstand stellen. Die Schriften von Alinsky sind so – in militanter Sprache verfaßt – ein »Manual für Rebellen« (so der Titel seines 1946 erschienenen Buches; dt. 1974; zur Rezeption vgl. Schutz/Miller 2015). Diese Handreichungen zur Eroberung der Macht wurden in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und in der politischen Selbstartikulation von Migranten und ethnischen Minderheiten breit rezipiert. Alinsky lehrte, »Menschen zu organisieren«; seine Bücher schrieb er im Gefängnis.
Rückenwind der Mehrheitspolitik gewannen die Community Action-Programme durch den Equal Opportunity Act des Jahres 1965, der Teil des von Präsident L. B. Johnson ausgerufenen »Kampfes gegen die Armut« war. Dieses öffentliche Programm stand unter der Leitformel der »größtmöglichen Partizipation der Bürger« (maximum feasible participation). Es schuf das rechtliche Fundament für eine Politik der Bürgereinmischung, in deren Horizont stadtteilbezogene Planungsvorhaben, Infrastrukturmaßnahmen und Dienstleistungsprogramme notwendig an formale Verfahren der Bürgerbeteiligung und des Bürgerentscheides gebunden sind (Stichwort: community control). Zugleich schuf dieses Programm das ökonomische Fundament für die Implementation einer Vielzahl von Modellprojekten zur gemeindlichen (Selbst-)Organisation. Eine Rückschau auf diese nunmehr 30-jährige Tradition der Community-Organization-Bewegung dokumentiert ein weites, in seiner Vielfältigkeit kaum zu überschauendes Panorama von Projekten, das hier nur benannt, nicht aber weiter ausgeführt werden kann (vgl. weiterführend Chambers 2014; Maruschke 2014; Mayo u. a. 2013). »Tenant-rights«-Organisationen, die für die Umwandlung von Nutzungsverträgen für städtischen (Not-)Wohnraum in Mietverträge mit verbrieften Schutzklauseln eintreten; Anwaltsplanung im Kontext von ortsbezogenen Sanierungsprogrammen; architektonische »Gentrification-Programme«, die eine signifikante Aufwertung der Qualität von Wohnungen und Wohnumfeldern zum Ziel haben, ohne alteingesessene und zumeist mietschwache Bewohner über das Instrument der Mietpreissteigerung zu vertreiben; die Installation von Nachbarschaftsbeiräten, die in kommunalen Verfahren der Sozialraum- und Infrastrukturplanung Sitz und Stimme haben; die Schaffung von Krisenhilfen, Mediationsverfahren und Schuldenausgleichsfonds, die in Fällen drohender Zwangsräumung ein Netz präventiver Wohnsicherung aufspannen; die Wiederbeheimatung von wohnungslosen Menschen; der Abbau sozialräumlicher Segregation und ethnisch entmischter Sukzession (Ghettobildung) durch steuerbegünstigte Incentive-Programme zur Förderung des privaten Wohnungsbaus und zur Ansiedlung von Dienstleistungsgewerbe; die Verbesserung städtischer Teilräume durch Umnutzung und durch die Verlagerung zentrumsnaher industrieller Nutzungen an die Peripherie der Städte (»Industrieparks«); der Aufbau einer rechtlichen Interventionsapparatur gegen spekulative Leerstände – die Liste ließe sich fortsetzen. Das nationenweite Programm »Empowerment Zones/Enterprise Communities« – 1993 von Präsident Clinton ins Leben gerufen – ist hier das letzte Glied in einer langen Kette von Entwicklungsprojekten in benachteiligten Stadtteilen, die durch die Stärkung von wirtschaftlicher Standortqualität und Infrastrukturpolitik, durch die Verbesserung von Wohn- und Wohnumfeldqualität und die Förderung einer lokalen Kultur der Kommunikation und der sozialen Verantwortung eine spezifische sozialräumliche Wertschöpfung zum Ziel haben (vgl. Hall/White 2012; Metzner 2009; Rich/Stoker 2014).
In den 1970er Jahren verknüpften sich diese Community Action-Programme mit einer zweiten sozialökologischen Reformbewegung: der Gemeindepsychologie. Programmatische Zielsetzungen der Gemeindepsychologie sind: (1) der Aufbau eines niedrigschwelligen, vernetzten und ganzheitlich orientierten Netzes psychosozialer Unterstützung im Stadtteil; (2) die Beheimatung der Bewohner und die Entwicklung von Mustern der Identifikation mit sozialräumlichen Umwelten (sense of community); und (3) die Förderung von Organisationen bürgerschaftlicher Selbstbestimmung, die zu Motoren sowohl der personalen Selbstbemächtigung als auch der sozialen Umweltgestaltung werden können. Die Gemeindepsychologie begreift soziale Probleme, Entmutigung und resignativen Rückzug als (fehlschlagende) Lösungsversuche des Subjekts im Spannungsfeld zwischen individuellen Bedürfnissen und strukturellen Lebensrestriktionen. Die »Gemeinde« ist das für das Subjekt sozialräumlich konkret verfügbare