»Marcell!« kam es leise, wie ein Hauch über Iris' blasse Lippen. Ohne ein ferneres Wort zu verlieren, nahm der Fürst vorsichtig die dahingestreckte Gestalt in seine Arme, hob sie empor, als wäre sie ein Kind, und trug sie in sein Arbeitszimmer, wo er sie auf das Sofa legte, neben ihr niederkniete, ihre Stirn mit Kölnischem Wasser netzte und, das blasse, süße Antlitz küssend, ihr tausend Liebesnamen gab.
»Was war mir nur?« fragte Iris verwundert und richtete sich halb auf. »Mein Kopf schwirrt noch«, meinte sie lächelnd, »und es braust mir vor den Ohren. Bin ich denn hingefallen?«
Hochwald stützte den Kopf, der sich wie bei einer welken Lilie zur Seite neigte, mit Kissen und bat Sigrid kurz, ein Glas schweren Weines zu holen. Doch Sigrid stand leichenblaß, mit strömenden Tränen zu Füßen des Sofas, als wollte sie selbst ohnmächtig werden, und das erfüllte Marcell mit Mitleid, und er ging das Glas Wein selbst holen, um vorläufig das Haus nicht zu alarmieren.
»Arme Sigrid! Hab' ich dich so erschreckt!« murmelte Iris matt, aber mit aufrichtiger, liebevoller Teilnahme.
Hochwald kam in fliegender Eile mit einem Glas Sherry zurück, das Iris halb leerte und sehr bald damit ihre Kräfte wiederfand, so daß sie sich ganz aufrichtete und lachend erklärte, wieder Walzer tanzen zu können. Davon wollte nun der Fürst freilich nichts wissen. Er zog seine Frau neben sich auf das Sofa nieder und legte ihren Kopf an seine Brust.
»Erst wird gefolgt und dann getanzt«, gebot er heiter, und dann sich zu Sigrid wendend, über deren regungsloses, blasses Gesicht die Tränen noch immer stürzten, meinte er freundlich: »Nun setz dich hierher zu uns und beruhige dich. Du siehst, Iris scheint sich ganz zu erholen! Erzähle uns, wie alles gekommen!«
Sigrid ließ sich in den nächsten Sessel fallen – die Knie brachen ihr, sie hätte nicht länger stehen können. Den Kopf in ihre beiden Hände stützend, verharrte sie einen Moment schweigend, dann begann sie mit eintöniger Stimme: »Ich traf Iris in der Bibliothek vor der schwarzen Truhe mit dem Briefe ihres Vaters, aus dem der Schlüssel zur Erde fiel, als ich sie von rückwärts umarmte. Ich hob den Schlüssel auf und fragte, ob ich den Kasten aufschließen sollte, und tat es als sie »Ja« sagte. Auf Iris' Geheiß habe ich den Kasten auch ausgepackt – Schmucksachen, Haare, ein Spitzentuch und welke Rosen waren darin. Als ich alles auf den Tisch gelegt, wandte ich mich nach Iris um und sah diese mit starren Augen, wie geistesabwesend, im Sessel sitzen. Dies erschreckte mich derart, daß ich sie laut anrief, worauf sie wie eine Schlafwandlerin aufstand, ein paar Schritte tat und dann zusammenbrach. Ich kniete neben ihr nieder, hob ihren Kopf in meinen Schoß – da öffnete sie die Augen – und im selben Moment kamst du herein, Marcell!«
Sie schwieg und trocknete die rinnenden Tränen von ihren Wangen – die Lüge hatte den warmen Quell versiegen gemacht.
»Ja, so war es«, nickte Iris wie fröstelnd. »Ich weiß, daß ich den Brief lesen wollte, und da kam es über mich, wie damals in Florenz, weißt du, Marcell, so schrecklich lähmend und furchtbar –! Oh, jetzt erinnere ich mich auch, daß Sigrid mich herausriß aus dieser Erstarrung, und daß ich dann ein Bild sah – Siegfrieds Bild! Es lag in dem Kasten!«
»Das wäre ja Hexerei, Liebling!« lächelte der Fürst ungläubig.
»Der Kasten enthielt in der Tat ein Medaillon mit dem Bild eines Kindes, blond und blauäugig – Siegfried wirklich etwas ähnlich«, bestätigte Sigrid.
»Und der Brief?« fragte Hochwald mit angstvoller Spannung.
»Ich habe ihn noch nicht gelesen«, sagte Iris mit der Überzeugung der Wahrheit, vor der Sigrid unwillkürlich die Augen niederschlug.
»O über euch Evastöchter!« rief Hochwald nicht ohne einen leisen Vorwurf. »War eure Neugierde auf die verborgenen Schätze des Kastens so groß, daß ihr sie sehen mußtet, ehe der Brief eures Vaters euch die nötigen Aufschlüsse darüber gab?!«
»Ja, Marcell, du hast recht«, fiel Iris ein, mit ihrem geraden und feinen Sinn für Recht und Unrecht und Wahrheit. »Und ich gebe dir mein Wort, es wäre nicht geschehen, wenn nicht jenes entsetzliche Gefühl über mich kam, das alles richtige Denken in mir lähmte. Und was Sigrid betrifft, so konnte sie gar nicht wissen, ob ich den Brief gelesen oder nicht!«
Sigrid schlug bei dieser nach Iris' Sinne gerechten Rechtfertigung abermals die Augen nieder.
»Nein, ich konnte das nicht wissen«, wiederholte sie mechanisch. Dann erhob sie sich. »Ich möchte in mein Zimmer gehen«, sagte sie leise.
»Ja, geh, Liebe, und erhole dich! Ich werde dir Wein heraufschicken und einen Bissen zur Erfrischung!« erwiderte Iris herzlich, indem sie aufstand und die eiskalte Hand der Schwester drückte. Und Sigrid ging.
Nach etwa zwei Stunden klopfte es an ihre Tür, und Fürst Hochwald trat ein in ihr hübsches Zimmer, wo sie, ein Buch der Hand, in der Balkontür saß.
»Ich komme, dir zu sagen, daß Iris sich vollständig wieder erholt hat«, begann er freundlich. »Wir haben eben mit den anderen eine Yachtpartie für heut nachmittag verabredet. Meine Schwester erinnert sich aus ihrer Jugend einer Segelfahrt nach einer der kleinen Inseln, wo man den Tee in einer Art von heiligem Haine trank, und so wollen wir's heut ihr zuliebe tun. Du bist doch seefest?«
»Vollkommen. Es wird sehr hübsch werden«, meinte Sigrid.
»Ich hoffe es, das Wetter ist herrlich, die See spiegelglatt und doch mit einer frischen südwestlichen Brise. Die Seeluft wird dir und Iris wohltun und eure Nerven stärken. Wie geht es dir?«
»Oh, ich danke, gut«, stammelte Sigrid. »Es war ja auch nur der Schreck und die Angst, als Iris zusammenbrach –«
»Ich weiß«, unterbrach sie Hochwald gütig. »Nun, wir haben zunächst deines Vaters Brief gelesen – derselbe empfiehlt die Vernichtung der in dem Kasten enthaltenen Gegenstände, und ich habe die Erfüllung dieses Wunsches für Iris übernommen. Doch was ist dir?« unterbrach er sich, als Sigrid einen Moment mit dem Taschentuch ihr Gesicht verhüllte.
»Nichts«, sagte sie matt. »Nur die Hitze – ich hätte die Balkontür nicht in der Sonnenzeit öffnen sollen.«
»Nein, du vermeidest das besser«, pflichtete der Fürst bei und fuhr dann fort: »Die Vernichtung der Juwelen glaubt Iris unterlassen zu dürfen und hat mit ihrem stets richtigen Takt den Wunsch geäußert, Brosche, Armbänder und Ringe zu einem Werke der Barmherzigkeit zu verwenden. Ich konnte ihr in diesem schönen Sinne nur beipflichten. Doch alles dies ist es nicht, weshalb ich zu dir kam, Sigrid! Es geschah in dem Gefühl, dir in meinen Gedanken heut unrecht getan zu haben.« »Du –? Mir unrecht?« fragte Sigrid verwirrt.
»Ja. Ich hatte dich vorhin im Verdacht, Iris wieder hypnotisiert zu haben – ein schmählicher Verdacht, und wie deine Sorge um Iris und deine Tränen gesagt haben, auch ein unwürdiger. Nun ist es aber meine Überzeugung, daß es niemand erniedrigt, sondern allemal ehrt, ein Unrecht zu bekennen, und darum kam ich zu dir, um dir zu sagen, daß der gegen dich gehegte Verdacht mir herzlich leid tut. Mehr noch. Die von dir an den Tag gelegte Angst und Sorge um Iris hat mir auch das häßliche Gefühl genommen, als liebtest du deine Schwester weniger als früher. Es liegt nicht in deiner Natur deine Gefühle auszudrücken, und damit müssen wir rechnen. Also – unsere gute Schwester für immer!« Und mit wahrhafter Herzlichkeit drückte Hochwald Sigrids eiskalte Hand und beugte sich herab, ihre Stirn zu küssen. Da kam es wie ein Schwindel über sie – sie wankte, und der Fürst mußte sie halten. Und dann sah sie auf zu ihm mit einem Ausdruck unaussprechlichen Wehes in den sonst so kalten Augen.
»Hab Mitleid mit mir und Geduld«, sagte sie leise, »ich bin so einsam und liebelos –«
»Niemals bei uns«, erwiderte Hochwald herzlich und beugte sich herab und küßte ihren Mund zur Bestätigung – wie ein Bruder seine Schwester küßt. Dann geleitete er sie zurück an ihren Sessel, nickte ihr zu und ging weiter. Als sein Schritt verhallt war, flog Sigrid gegen die Tür verriegelte sie von innen und warf sich dann mit einem dumpfen Schrei