Iris legte den Brief auf den Tisch, öffnete eines der mit Wappen und Ornamenten bemalten Fenster, daß die köstliche Sommermorgenluft mit einem ganzen Strom von Rosenduft hereindrang – und dann trat sie an eines der verschlossenen und mit kostbaren Teppichen verhängten Bücherregale, das die Handschriften auf Papyrus und Pergament, die Schätze des Majorats an alten Bibeln und Missalen enthielt, die lange vor Erfindung von Gutenbergs Kunst geduldige Mönche abgeschrieben und mit kunstreichen Initialen und Miniaturen verziert hatten. Aber nicht nach solch einem Denkmal alter christlicher Kunst suchte Iris – sie zog aus einer dunkeln Ecke dieser Schatzkammer der Hochwalder Bibliothek jene Truhe hervor, die, ein noch unberührtes Vermächtnis, ihr Eigentum war, ohne daß sie sich des Besitzes erfreut hätte.
Sie stellte den Kasten auf den Tisch und setzte sich dann in einen der Sessel davor hin, den Blick auf den länglichen Kasten geheftet, dessen schwarzer Samtbezug und alter, kunstreicher Beschlag von Silber ihm etwas von einem Paradesarge verlieh. Und wie Sie so dasaß, fühlte Iris wieder jenes Gefühl der Lähmung durch ihren Körper kriechen, das sie schon einmal empfunden. Es kam von den Füßen an ihr herauf und machte sie unfähig, ein Glied zu rühren, und ihr Herz schlug dazu in unregelmäßigen Schlägen so laut gegen ihre Brust, daß sie auf jenes seltsame Hämmern lauschen mußte, als könnte es ihr etwas offenbaren und erzählen. Das Fühlen, Hören, Sehen und Denken erstarrte allmählich in ihr, nur das Herz schlug fort, laut, rätselhaft.
Das leise Aufgehen der Tür rüttelte sie nicht aus dieser moralischen Lähmung auf – es verhallte ungehört und bedeutungslos vor dem seltsamen Klopfen des Herzens, das wie ein gefangener Vogel gegen seinen Käfig schlug. Als Sigrid, die in die Bibliothek getreten war, um die neuesten Zeitungen dort zu lesen, Iris so sitzen sah, regungslos, aber mit offenen Augen vor der schwarzen Truhe, die schon so sehr ihre Neugierde erregt hatte, trat sie neben ihre Schwester hin und legte den Arm um den Nacken der jungen Frau.
»Bist du noch böse auf mich?« fragte sie leise. »Sei gut, Iris, denn ich weiß nicht, was ich rede, weil ich manchmal so unglücklich bin!«
Iris schreckte auf aus ihrer Erstarrung, aber nur halb, und Sigrids Bitte um Vergebung klang ziemlich bedeutungslos an ihr Ohr.
»O ja«, sagte sie mechanisch und wie erschöpft. »Wir sind ja Schwestern. Nein, ich bin nicht mehr böse. Nur außer mir war ich, denn ich habe doch Papa so geliebt.«
»Ich weiß es«, erwiderte Sigrid, den Blick auf die Truhe und den danebenliegenden Brief heftend. »Du willst ihn lesen? Oder tatest du's schon?« fragte sie darauf deutend.
Statt aller Antwort nahm Iris den Brief in die Hand und griff nach einem der auf dem Tisch liegenden Falzbeine, mit dem sie den Umschlag langsam aufschnitt, ohne die Siegel zu verletzen. Dabei fiel zunächst ein kleiner, in Seidenpapier gewickelter Gegenstand heraus, den Sigrid vom Teppich aufhob und aufwickelte.
»Ah«, sagte sie, einen kunstvoll gearbeiteten Doppelschlüssel zeigend, »das also ist die Springwurz für dieses Geheimnis in schwarzem Samt. Soll ich's öffnen?«
Iris nickte nur – sie hätte weder sprechen noch widersprechen können, denn sie fühlte die schreckliche Willenlosigkeit wieder über sich kommen. Sigrid nahm die stumme Zustimmung nur für eine natürliche Bewegung und beeilte sich, Gebrauch davon zu machen. Nach ein paar vergeblichen Proben öffnete der Doppelschlüssel die beiden kleinen Schlösser der Truhe. Mit einem feierlichen »Sesam, öffne dich« schlug Sigrid den Deckel zurück und enthüllte unter einer Schicht weißen Papiers einen zweiten Behälter, dem die Truhe nur als äußere Hülle diente, eine sehr schlichte, längliche, hohe und schmale Schachtel von Pappe, beklebt mit dunkler Ledertapete und umkreuzt von schwarzen Seidenbändern, die den losen Deckel festhielten.
Da Iris kein Zeichen machte, kein Wort sagte, das ihr Einhalt geboten hätte, so nahm Sigrid die Pappschachtel aus der Truhe und stellte sie auf den Tisch.
»Soll ich die Bänder lösen?« fragte sie, und Iris nickte wieder wie ein Automat, den Blick starr auf die Schachtel geheftet, die Hände mit dem offenen Briefe in dem Schoße, als könnte sie dieselben mit keiner Willensmacht regen und bewegen. Und ihr Herz schlug und schlug seinen unregelmäßigen Takt und hüllte ihre Gedanken in einen dichten, grauen Schleier – sonst hätte es ihr auffallen müssen, wie Sigrid ganz des Briefes zu vergessen schien, nun eines Rätsels Lösung so nahe war, eines Rätsels, dem sie oft nachgegrübelt bis zu Unerträglichkeit. Sie löste die schwarzen Bänder und schlug den Deckel zurück und enthüllte vier sauber in weißes Seidenpapier gewickelte Pakete von verschiedener Größe. Obenauf lag ein kleines Päckchen in rauhem, starkem Papier, mit Bindfaden verschnürt und mit einem großen Siegel verschlossen, dessen Abdruck durch einen warmen Metallstift oder Stab verwischt zu sein schien. Sigrid durchschnitt den Bindfaden mit einer Papierschere und schälte die äußere Hülle los, die Sie in die Tasche steckte, ohne daß Iris etwas davon zu sehen schien. Die nächste Papierhülle enthielt wenige, aber kostbare Schmucksachen – eine Brosche, bestehend aus drei in Kleeblattform gefaßten, echten grauen Perlen von besonderer Größe, ferner mehrere ganz dünne Armspangen von mattem Golde nach etruskischem Muster gearbeitet, ein Medaillon von glatter schwarzer Emaille an einer federleichten Kette von Jett und zum Schluß vier Ringe für sehr schlanke Finger berechnet: ein Trauring mit der eingravierten Inschrift: F. Frh. v. R. 17. Juni 1867; und drei kostbare Diamantringe in verschiedenen Formen, deren einer mit einem länglichen, wundervollen Türkis geschmückt war und die Inschrift trug: F. Frh. v. R. 15. März 1866 – ein Verlobungsring.
»Wie gemacht für deine Finger – mir wären sie zu eng«, sagte Sigrid, die Ringe auf den Tisch legend und das Medaillon öffnend. Es enthielt das Miniaturbildnis eines Kindes, dessen Köpfchen mit großen weitgeöffneten blauen Auge in spitzenbesetzten Kissen lag – also ein sehr kleines, dem Steckbettchen noch nicht entwachsenes Baby, so alt wie der kleine Siegfried droben, dessen Porträt es ganz gut hätte sein können. Diese Idee rüttelte Iris etwas auf aus ihrer Lethargie – sie wollte nach dem Medaillon langen, aber die Hände versagten ihr den Dienst.
Sigrid hob nun das nächste Päckchen aus dem Kasten und entnahm dem nur lose umgehüllten weichen Papier eine Fülle zusammengewundenes, abgeschnittenes blondes Frauenhaar von einer Weichheit und jener seltenen, silberglänzenden Flachsfarbe wie die Haare von Iris – Haare, die von Sigrids Händen sorgsam gelöst lang wie ein Schleier herabhingen – köstliches, märchenhaftes Frauenhaar, sanft gewellt und seidenweich wie das Haar der Frau Holle, das sie im Herbst um die letzten Rosen spinnt – –
»Wie Marienfäden«, sagte die sonst so wenig in poetischen Vergleichen bewanderte Sigrid und legte die langen, lichten Strähnen auf den Tisch, und wieder nickte Iris.
Das nächste Paket, das Sigrid herausnahm und entfaltete, enthielt ein dreieckiges Tuch von weißen, echten spanischen Spitzen, wie Damen es über dem Kopfe tragen, wenn sie in Gesellschaft oder ins Theater fahren. Nur war das wertvolle Tuch mit dem schönen Arabeskenmuster teilweise mit einer bräunlichen Flüssigkeit getränkt, die den einen langen Zipfel ganz färbte und das Tuch wertlos machte.
»Wie in Blut getaucht«, sagte Sigrid schaudernd und legte das zarte, seidene Spitzengewebe beiseite.
»Wie in Blut getaucht«, wiederholte Iris mechanisch.
Das letzte Päckchen, das Sigrid aus dem Kasten nahm, war nur klein. Es enthielt drei welke Rosen, zusammengebunden zum Sträußchen, die derselbe bräunliche Farbenton überzog, wie ihn die Flecke auf dem Spitzentuche zeigten. Weiter enthielt der Kasten nichts.
Sigrid legte die welken Rosen auf die Tischplatte nieder – die Sache hatte sie enttäuscht. Kein Papier, kein Brief, kein Name – nur diese paar Gegenstände,