»Wenn nun«, sagte sich Hochwald, »äußere Dinge genügten, um einen Kontakt zwischen Iris und der – Vergangenheit zu vermitteln, wie würde dann die Wirkung sein, wenn sie in direkte Berührung mit derselben kommen würde?«
Eine ungelöste, nicht zu lösende Frage, deren Beantwortung im Schoße der Zukunft verborgen ruhte.
Aber noch ein anderes als diese Meditationen drängte sich Hochwald auf beim Nachdenken über die Ereignisse des Abends – Sigrid. Sie war ihm – nun, direkt unsympathisch war vielleicht zu stark ausgedrückt, aber er mochte sie nicht, und wenn er ihr regelmäßig schönes, vom ersten Jugendschmelz überhauchtes Gesicht sah, hatte er immer die Empfindung, als ringelte sich eine Schlange über seinen Weg – das einzige Tier, das ihm einen unbesiegbaren Widerwillen einflößte. Er hatte sich oft selbst und mit Erfolg über diese Abneigung gegen Sigrid Erlenstein gescholten und sich bemüht, auf einen geschwisterlichen Fuß zu kommen, allein der etwas steinerne Blick ihrer lichtblauen, hellumrahmten Augen hatte ihn immer wieder an den Blick der Schlange erinnert, und er war froh, daß sie sich ihm stets gleichmäßig kühl, zurückhaltend, fast feindlich oft, gegenüberstellte. Ein ständiger Gast auf Hochwald soll sie mir nicht werden, dachte er noch im Einschlafen.
Der erste Mai kam glorreich heraufgezogen, ein echter Frühlingstag mit Sonnenschein, mit einer sanften, kaum merklichen, kühlenden Brise von den Apenninen her, mit Rosenduft und blauem Himmel – ein echter, rechter Hochzeitstag. Die Erlenstein waren bei ihrem Umzug nach Florenz zu Or San-Michele eingepfarrt worden, und hier in diesem großartigen gotischen, eigenartig-erhabenen Baudenkmal, vor dem berühmten Tabernakel des Andrea Orcagna mit seinem wundertätigen Madonnenbild, vor diesem herrlichsten Kunstdenkmal, über das fünfhundert Jahre dahingegangen sind wie ebensoviel Tage, kniete, als die Glocken zum Angelus verhallt waren, die lieblichste junge Braut im Kranz und Schleier, das unschuldreine Herz bewegt und geschwellt von dem tiefen, heiligen Ernst dieser Stunde, die den Wendepunkt im Leben zweier Menschen bezeichnet.
Das doppelte »Ja« war verhallt, der heiligste Schwur, den menschliche Lippen sprechen können, war verklungen, und das neuvermählte Paar kniete auf den Altarstufen zum kurzen innigen Gebet, zu einem lautlosen, weihevollen Gelöbnis. Der Weihrauch kräuselte duftend empor und stieg hinan, sich mit dem Mittagssonnenschein zu mischen, der heiter und wie ein Gruß des Himmels selbst durch die gemalten Scheiben strahlte und das im mystischen Dunkel liegende rechte Schiff der Kirche zu lichter Dämmerung verklärte. Sanfte, träumerische Orgeltöne durchfluteten den Raum, den Rosen- und Orangenblütenduft durchzog – und sonst war alles still, denn die Trauzeugen wagten nicht, die stille Andacht der Neuvermählten zu stören, und standen still abwartend neben ihren Stühlen – ein kleiner, ganz kleiner Kreis, nur bestehend aus dem Vater der Braut und der Schwester des Bräutigams, den beiden Brautjungfern Sigrid und Sascha, und als deren Führer Boris und der Cavaliere Spini – sonst niemand.
Wie eine weiße Taube kniete Iris vor dem Heiligenschrein des Orcagna, die wunderschönen, veilchenblauen Augen in seliger, frommer Selbstvergessenheit emporgerichtet zu der wundertätigen Madonna, die mild herabzulächeln schien, und so innig, so tief war ihre Andacht, daß es Hochwald schwer wurde, sie durch ein leis geflüstertes: »Iris, meine süße Frau«, in die Wirklichkeit zurückzurufen, in die sie indes lächelnd und willig zurückkehrte.
Daheim im alten Palazzo wartete schon mit einer märchenhaften Blumenfülle der kleine Kreis, der die Hochzeitstafel vervollständigen sollte – kostbare Stoffe fegten in langen Schleppen über den Estrich, Brillanten funkelten und blitzten im Mittagssonnenlicht, und mitten darin stand am Arme ihres Gatten die Fürstin Iris Hochwald und nahm die Glückwünsche entgegen, die ihr mit ungeteilter Herzlichkeit entgegengebracht wurden.
Die Frühstückstafel verlief unter heiteren und ernsten Reden fröhlich für die Gäste, wie immer – und wie immer auch als eine Prüfung für das Brautpaar, denn sich in Rede und Gedicht anfeiern zu lassen, ob ernsthaft oder scherzend, ist immer eine Prüfung. Endlich, endlich winkte Madame Chrysopras, die in violettem Goldbrokat mit Zobelbesatz majestätisch genug als »Brautmutter« fungierte, der jungen Frau, und diese erhob sich, um droben in ihrer Schlafstube das Brautgewand mit dem Reisekleide zu vertauschen. Zugleich auch stand der Graf auf, um seinen Schwiegersohn in sein Ankleidezimmer zum Wechseln des Anzuges zu führen.
»Ihr findet mich dann in meinem Bau«, sagte er. »Nicht um Abschied zu nehmen – ich nehme niemals Abschied, sondern um mein Sonnenscheinchen vor ihrer Abreise allein und ohne fremde Zeugen zu segnen!«
Mehr als ein Jahr war vergangen, und im Parke von Schloß Hochwald blühten die Rosen in märchenhafter Pracht, säuselten die Blätter und Zweige der Eichen, Blutbuchen und Föhren in der warmen Sommerbrise, die über die Nordsee kam mit köstlich erfrischendem Hauch. Ein Jahr und drei Monate – im Maß der Ewigkeit ein Körnchen nur, und doch, wie reich, wie unvergeßlich herrlich für die zwei glücklichen Menschen auf diesem schönen Fleck Erde voll von der Poesie des nordischen Gestades.
Fünfzehn Monate ungetrübten Glückes waren für Marcell und Iris Hochwald vergangen, flüchtig wie ein schöner Traum, trotzdem sie das einsame Hochwald nicht ein einziges Mal verlassen hatten, selbst dann nicht, als die Herbst- und Frühlingsstürme ihnen die Wellen der Nordsee bis hoch an das graue Schieferdach des Schlosses geworfen.
Wenige Wochen nach ihrem Hochzeitstage war der Graf von Erlenstein heimgegangen, nun er das Kind seines Herzens wohlgeborgen vor den Stürmen des Lebens an der Seite des geliebten Mannes wußte, gerade als hätte er nur das noch erleben wollen. Iris war mit ihrem Gatten wieder nach Florenz geeilt und dort geblieben, bis man den Grafen zu San Miniato beigesetzt hatte. Madame Chrysopras bot Sigrid auf Veranlassung ihres Bruders eine Heimat in ihrem Hause, wenigstens vorläufig an, und Sigrid, die ihren Vater so heiß betrauerte, als es ihr kühles Empfinden gestattete, und sich im ersten heiligen Schmerze wieder in alter Liebe mit Iris vereinte, nahm dies Anerbieten gern an und versprach ihren Besuch auf Hochwald für später. Es folgte nun noch die Erbschaftsregulierung respektive Verlesung des Testamentes, das zur allgemeinen Überraschung ein reicheres Erbe aufwies, als man vermutet hatte.
»Papa hat immer nur die Zinsen eines Vermögens in der Höhe meines Erbteiles verbraucht, ich habe ja so oft für ihn die Berechnungen gemacht«, erklärte Sigrid mehr als einmal ganz erstaunt. Sie war ja immer noch keine reiche Erbin im heutigen Sinne des Wortes, aber sie konnte doch standesgemäß sorgenlos leben mit dem, was sie ererbt, ohne sich nicht allzu extravagante Wünsche versagen zu müssen.
Iris' Erbteil war indes bedeutend, ja mehr als um das Doppelte höher, »infolge des Vermächtnisses einer Pate«, wie das Testament erklärte; dieselbe ungenannte Pate hatte Iris auch ihren Schmuck, bestehend in sehr schönen Perlen und anderen Juwelen, hinterlassen, weshalb Sigrid den Schmuck ihrer verstorbenen Mutter ungeteilt allein erhielt – eine Bestimmung, die Madame Chrysopras für merkwürdig und parteiisch erklärte, von Iris aber als ganz gerecht und natürlich verteidigt wurde, welche Ansicht Fürst Hochwald kräftig unterstützte. Iris erhielt ferner die verschlossene, mit schwarzem Samt bezogene Truhe als ein weiteres Vermächtnis der ungenannten Pate – die Schlüssel dazu ruhten in dem versiegelten Schreiben, das der Graf ihr selbst noch eingehändigt, um es nach seinem Tode zu öffnen. Fürst Hochwald hatte einen gleichfalls versiegelten Brief des Grafen aus dem Nachlasse erhalten mit der Aufschrift: »Für den Fürsten Marcell Hochwald, meinen Schwiegersohn. Nur von ihm allein zu lesen.« –
Sigrid vermutete,