Als man sich am Vorabend zum ersten Mai trennte, fiel es niemand auf, daß der Fürst bis zuletzt blieb. Er half, als Mitgefeierter, die Honneurs des Hauses machen und sagte den Mitgliedern desselben als letzter »Gute Nacht«, worauf der Graf selbst die junge Braut zum letztenmal in ihr Mädchenstübchen führte, dem sein eigenes Schlafzimmer gegenüber lag. Als Hochwald Sigrid gute Nacht wünschte, sagte er zugleich leise: »Auf ein Wort«, und öffnete die Tür zu Sigrids Zimmer, in das diese überrascht und klopfenden Herzens eintrat. Aber Hochwald ließ sie nicht lange im unklaren. Nicht unfreundlich, aber scharf und ernst sagte er, vor ihr stehend: »Sigrid, was war das vorhin mit Iris?«
»Was?« stammelte sie, heftig erschrocken.
»Dieser Ohnmachtsanfall, als ich kam. Sie sagte, sie müßte wohl geschlafen haben – wie ist das möglich in deiner und Spinis Gegenwart. Ich wünsche klar in dieser wunderbaren Sache zu sehen!«
Hochwald fühlte wenig Sympathie für seine Schwägerin, daher war wohl auch sein Blick strenger, sein Ton befehlender, als sein gütiges Herz es sonst zugelassen hätte; als aber Sigrid schwieg und den Kopf senkte, kam noch die Sorge um Iris dazu, so daß er seine Frage schärfer wiederholte.
»Ich überlege nur, ob du mir glauben würdest, wenn ich dir sage, wie es kam«, sagte sie bitter.
»Glauben? Seit wann hätte ich Grund, an der Wahrheit deiner Aussagen zu zweifeln?« fragte er kühl.
»Nun denn«, begann Sigrid, »ich war mit Iris allein, sie saß in dem niedrigen Sessel, und ich verschleierte die Lampe. Dabei mußte ich sie ansehen, eine ganze Weile lang – ich weiß selbst nicht warum. Sie schien einzuschlafen – und dann kam der Cavaliere und sagte mir, ich hätte sie unwissentlich hypnotisiert – oh, siehst du nun, daß du mir nicht glaubst?« schloß sie heftig.
»Nur das Wort ›unwissentlich'«, entgegnete Hochwald ruhig, aber mit schwer umwölkter Stirn. »Doch gleichviel. Und dann?«
»Dann?« stammelte Sigrid, »dann hat der Cavaliere ihr befohlen, aufzuwachen.«
»Ist das die Wahrheit?« fragte der Fürst mit sichtlicher Überwindung.
»Ja.«
»Ihr habt sie nicht, zufällig oder im Scherz – du siehst, ich bin geneigt, Brücken zu bauen – Dinge suchen und verrichten, hellsehen lassen?« fuhr Hochwald fort.
Sigrid richtete sich hochmütig auf.
»Ich brauche keine Brücken«, sagte sie mit feindlichem Blick. »Wir haben in der Tat einige Fragen an sie gerichtet– zum Beispiel, wo du dich befindest, und sie sah dich ohne Zögern in dem Blumenladen den Orchideenstrauß wählen. Im übrigen waren ihre Reden ziemlich verworren – sie sprach von Schatten, von einer Frau, die sie abwechselnd für sich selbst, für mich und für ein altes Porträt in Papas Besitz hielt, und dann erwähnte sie mehrmals die weißen Rosen von Ravensberg. Was ist es damit? Ich hörte niemals davon sprechen.«
»Eine Legende«, erwiderte Fürst Hochwald, der aufmerksam zugehört hatte. Dann schritt er nachdenklich ein paarmal auf und ab, gefolgt von Sigrids brennenden Augen.
»Hat meine Erklärung dir genügt?« fragte sie endlich.
»Gewiß.« – Er blieb wieder vor ihr stehen und legte die Rechte auf ihre Schulter, eine Berührung, unter der sie zusammenzuckte und das Blut aus ihren Wangen weichen fühlte. Aber sie hielt die Augen fest auf ihn gerichtet.
»Sigrid«, sagte er ernst und mild mit seinem nur ihm eigenen, zu Herzen gehenden Ton. »Sigrid, ich werde von morgen an den Titel eines Bruders für dich führen, und meine reinste und beste Absicht ist es, dir ein guter Bruder zu sein mit Rat und Tat. Aber es hat jeder seine schwache Seite, wie man so sagt, trotzdem ich sie gerade für meine stärkste halte – Iris! Ich würde in dieser Beziehung kein Maß kennen, wenn diese Seite in mir gereizt würde. Ich warne dich also davor und verbiete dir ein für allemal, irgendwelche hypnotischen Experimente mit Iris vorzunehmen, noch zu dulden, daß andere es tun. Ich gehöre nicht zu den Leuten mit leeren Worten, ein einziges Übertreten dieses Verbotes – Verbotes, sage ich –, und wir beide sind geschiedene Leute für immer. Ich hoffe, du hast mich verstanden.«
Sigrid nickte wortlos – sie fürchtete, schreien zu müssen, wenn sie den Mund öffnete.
»Ich lebe gern in Freundschaft mit der Welt«, schloß Hochwald freundlich, »und ein Zerwürfnis mit dir, die meiner Frau stets eine liebevolle Schwester war, würde mich am tiefsten schmerzen. Aber es wäre unvermeidlich. Also respektiere meine Bitte –«
»Dein Verbot!«
»Mein Verbot – und laß uns Freunde bleiben. Gute Nacht, Sigrid!«
»Gute Nacht –!«
Daß Hochwald nach all dem Seltsamen, das er gehört, nicht zu früh den Schlaf fand, darf nicht wundernehmen. Er hatte sich dem tierischen Magnetismus gegenüber stets ungläubig verhalten und den modernen Ausführungen des Hypnotismus als ein Mann ohne Erfahrung gegenübergestanden. Was er heut über Iris' hypnotischen Zustand gehört, machte ihn ratlos und verwirrt. Erstens: welcher starke Wille hatte sie in den hypnotischen Schlaf versetzt? Der Sigrids, das hatte diese selbst zugestanden. Aber man hypnotisiert niemanden »zufällig« – darin also hatte Sigrid die Wahrheit umgangen. Und dann die Wirkung! Hier zweifelte Hochwald nicht an Sigrids Bericht, denn er gedachte eines düsteren Regentages, als er nachmittags in dem Mädchenzimmer seiner Braut saß und deren »Schätze« besichtigte – die Fächersammlung, die er durch manch wertvolles Stück bereichert hatte seitdem, und ihre anderen Sachen und Sächelchen, Sevresfigürchen, Alt-Meißner und Dresdner Gruppen, winzige chinesische Teekännchen.
Graf Erlenstein saß am Kaminfeuer, doch das Wetter war schwül und schläfrig, und der Regen prasselte in schweren Tropfen an die Fensterscheiben, und das Buch war ihm aus der Hand geglitten, und er schlief – –
Sigrid hatte sich längst fortgestohlen – sie haßte dieses Beisammensein mit dem Brautpaar, das nun so gut wie allein war. Da hatte Iris dem Verlobten das weiße Maroquinetui gezeigt mit den beiden Miniaturporträts und ihn gebeten, sie nicht auszulachen, als sie ihm gestand, welch seltsam lähmendes Gefühl sie stets beschleiche, wenn sie das Porträt der Dame im weißen Rosenkranz betrachte.
»Gerade, als müßte mir Unheil kommen von dieser schönen Fee, und sie ist doch tot, wie Papa sagt«, schloß sie.
Hochwald war nur mit der größten moralischen Anstrengung Herr seiner Bewegung beim Anblick des weißen Maroquinetuis geworden. Vor seiner Erinnerung war eine Szene zur Dämmerstunde am Kamin lebendig geworden, als derselbe Mund, den Meisterhand hier auf das Elfenbein gezaubert, die Sage von den weißen Rosen von Ravensberg erzählt und die Geschichte dieses Maroquinetuis dazu – – – oh, es gibt Tage in unserem Leben, wo jedes Wort, das in ihrem Laufe gesprochen wurde, in unserer Seele eingegraben steht wie in ein erzenes Monument.
Iris' lächelnde Frage, ob die Fee mit den weißen Rosen auch ihn bezaubert hätte, hatte ihn aufgeschreckt, und leidenschaftlich wie nie zuvor hatte er das lichte, blonde Haupt seiner Braut an die Brust gedrückt, als müßte er sie vor etwas Ungenanntem schützen.
Und nun – was er heut abend gehört, war nur ein Glied mehr zu der Kette, die unsichtbar und unerklärt