Sigrid hatte recht berichtet – Fürst Hochwald hatte sich gegen zwölf Uhr beim Grafen Erlenstein melden lassen, und dieser hatte den ihm lieben und verehrten Landsmann herzlich empfangen und die Rede auf den gestrigen Ausflug gebracht. Aber Hochwald hatte das Gespräch nicht aufgenommen.
»Herr Graf«, begann er, »mich führt heut eine ernste Angelegenheit zu Ihnen – eine so ernste, daß davon das Glück meines Lebens abhängt«.
»Sie spannen mich aufs höchste, lieber Hochwald«, erwiderte der Graf erstaunt, indem er dem Gaste einen Sessel in die Fensternische rückte, in welcher er selbst lesend gesessen. Aber der Fürst nahm nicht Platz, sondern blieb, die Hand auf die Lehne des Stuhles gestützt, neben demselben stehen.
»Herr Graf, ich gebe mir die Ehre, Sie um die Hand Ihrer Tochter, der Gräfin Iris zu bitten«, sagte er feierlich – sichtlich tief bewegt.
Graf Erlenstein sah seinen Gast einen Moment wortlos an, dann sank er im Stuhle zurück und bedeckte das Antlitz mit beiden Händen, und es wurde so still im Zimmer, daß das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims wie Hammerschläge klang.
»Herr Graf, wie soll ich mir dies entsetzliche Schweigen deuten?« unterbrach der Fürst mit gepreßter Stimme die unerträglich werdende, beklemmende, Unheil verkündend Stille. Da ließ Graf Erlenstein die Hände von seinem Gesicht gleiten, dessen Züge tiefsten Seelenschmerz ausprägten, und trocknete mit zitternder Hand die kalten Schweißperlen von der Stirn.
»Ich preise Iris glücklich, daß sie Ihr Herz gewonnen« sagte er endlich mühsam. »Aber ehe ich mich des Glückes dieses geliebten Kindes freuen darf, bin ich mit meiner Ehre verpflichtet, Ihnen ein Geständnis zu machen, das ich wiederum Ihrer Ehre als ein tiefes Geheimnis anvertrauen muß – –«
Fürst Hochwald nickte zustimmend, dazu bedurfte es keiner Worte. Aber warum wurde die Atmosphäre dieses Raumes plötzlich so schwer, so erstickend, warum brauste es plötzlich vor seinen Ohren und flimmerte es rot vor seinen Augen wie Blut?
»Iris ist nicht meine Tochter«, klang Graf Erlensteins Stimme gedämpft herüber.
»Nicht Ihre Tochter?« wiederholte Hochwald mechanisch.
»Nicht meine Tochter dem Fleische nach, aber doch mein Kind im Geiste und im Herzen«, fuhr Graf Erlenstein noch leiser fort. »Wünschen Sie zu wissen, wer sie ist?«
»Ja. Es ist mein gutes Recht«, war die mühsame Antwort.
»Iris ist die Tochter meiner Schwester Marie von Ravensberg.«
»Da faßte die Hand Fürst Hochwalds die Lehne des Stuhles so krampfhaft, daß dieser umschlug, und dann preßte er einen Moment die Hand vor die Augen, als schwindelte ihm, und er lehnte sich gegen die Wand, blaß, hohläugig, gealtert um zehn Jahre. – –
Beide Männer schwiegen lange Zeit. Schließlich ergriff der Graf zuerst das Wort.
»Wir hatten das Kind – Marie Rose Iris – gleich zu uns genommen, als – als seine Mutter das Haus verließ«, begann er leise, wie in Erinnerung verloren; »und weil wir den Jammer nicht ausdenken konnten, dem das arme Wesen in der Welt ausgesetzt war, wenn es für alle sichtbar das Kainszeichen trug, so wagte ich einen Appell an des Königs Gnade. Mit dem vollen Einverständnis des allergnädigsten Herrn vollzogen wir den frommen Betrug, der ein junges Menschenleben vor Elend und Bitternissen bewahren soll – wir sprengten den Tod der kleinen, überzarten Marie Rose von Ravensberg aus und ließen sie unter ihrem dritten Taufnamen Iris auferstehen, als den Zwilling unseres einzigen Kindes Sigrid. Unser zurückgezogenes Leben in Kairo machte die Sache einfach genug – dort galt sie als unsere Älteste – an der italienischen Küste, wo wir dann jahrelang in tiefster Einsamkeit lebten, schmolz die Älteste mit der Jüngsten zum Zwillingspaar zusammen. Sie wissen es beide nicht anders, sie haben unsere Liebe redlich geteilt. Und so ist Iris denn erblüht im Sonnenschein, fern von dem furchtbaren Schatten ihres Ursprungs, und mein einzig Gebet ist täglich, daß sie nie erfahren möchte, wessen Kind sie ist. Dem Manne aber, der ihre Hand begehrt, der mir ein Bürge scheint für ihr Glück, bin ich's mit meiner Ehre verpflichtet, die Wahrheit zu sagen.«
Fürst Hochwald neigte zustimmend das Haupt.
»Verzeihen Sie mir«, sagte er gewaltsam gefaßt, »der Schlag kam so plötzlich, so unvorbereitet – Gott allein weiß, wo er uns Starke der Erde treffen und zu Boden schmettern kann.«
»Ein nur zu wahres Wort«, erwiderte der Graf ernst. »Und«, setzte er zögernd hinzu, »und weiß Iris –?«
»Seit gestern – in der Villa Poggio«, antwortete Hochwald aufstöhnend. »Sie versprach mein Dasein zu teilen, mein Sonnenschein zu werden –«
Er brach kurz ab.
»Arme, kleine Iris«, sagte Graf Erlenstein leise. »Arme, im Erblühen zum Verwelken verurteilte Menschenblüte! Sie wird ja vielleicht nicht gleich daran sterben, aber verwinden wird sie's nie. Sie ist so tiefinnerlich angelegt, wie – wie ihr Vater. Arme, kleine Iris!«
Fürst Hochwald erhob beide Hände, wie um diese peinigenden Worte nicht mehr hören zu müssen.
»Lassen Sie mich gehen, Graf, es allein zu verwinden«, bat er. »Ich bedarf der Sammlung –«
»Ja, gehen Sie«, erwiderte Erlenstein aufstehend. »Es nützt ja doch nichts, darüber zu reden. Iris wird es eben tragen müssen –«
Hochwald entfernte sich nach einem kurzen Händedruck und ließ den Grafen allein zurück mit seinen schmerzlichen Gedanken.
In dem hab' ich mich auch getäuscht, dachte er bitter, dem Fürsten nachblickend. »Ich hatte ihn für stärker gehalten, für vorurteilsfreier – für fester in seinen Gefühlen. Aber anderseits – habe ich denn ein Recht, all das für mein armes Sonnenscheinchen zu verlangen, darf ich denn überhaupt zu denken wagen, daß ein Mann, ein Edelmann, seiner Ahnentafel mit den tadellosen Wappenschildern den vom Henker gebrandmarkten Schild und den Namen mit dem Kainszeichen einfügen würde? Nein, ich bin ungerecht gegen diesen Mann, vor dessen Augen sich die Vererbungstheorie als ein schwarzes Gespenst aufrichtete, das er für seine Nachkommen nicht beschwören kann und darf. Arme, kleine Iris! Was sage ich ihr, wenn sie fragt –?«
Graf Erlenstein hatte dem Fürsten Hochwald in der Tat unrecht getan. Nicht der Name Ravensberg, nicht die Vererbungstheorie hatten ihn für den Augenblick zu Boden geschmettert – Gedanken, Erinnerungen ganz anderer Art waren es, die furchtbarer, schmerzhafter an ihm nagten als der Geier an dem gefesselten Prometheus. Allein sein, allein, fort aus dem Geräusch der Großstadt – das war zunächst sein Streben. Aber wohin? Wo ist man allein? Da fiel ihm das Franziskanerkloster auf der Höhe in Fiesole ein – in seinen Hain verirrte sich selten ein Fremder. Er nahm einen Wagen und ließ sich hinausfahren, ohne etwas von der Aussicht ins Tal, auf Berg und Stadt zu sehen, die der vielgewundene Weg dem Auge darbietet, und war froh, als der Wagen die Terrasse erreicht hatte und nun hielt. Dem Kutscher befahl Fürst Hochwald, auszuspannen und auf ihn zu warten; dann eilte er die Höhe hinan und atmete erst auf, als die Klosterpforte sich vor ihm öffnete und der Bruder Pförtner ihn mit freundlichem Lächeln einließ.
Der Tag war warm, im Lorbeer- und Zypressenhain aber war es kühl, und der Hauch tiefster Melancholie, der über ihm ruhte, tat ihm wohl und packte doch wieder seine Seele mit namenlosem Schmerz. Auf seinem Lieblingsplatz zu Füßen des Kreuzes sank er nieder und preßte das Antlitz in den moosigen Grund, um nicht laut aufzuschreien.
»Das nicht – nicht das!« stöhnte er. »O mein Gott, wie konntest du das geschehen lassen! War es nicht genug, mit diesen zwanzig langen