»Und wie hieß diese – Dame?« fragte Graf Erlenstein nach einer Pause mit leicht bebender Stimme.
»Oh – ich weiß nicht mehr recht – ich habe den Namen vergessen«, erwiderte der Cavaliere, ganz Feuer und Flamme für sein Thema. »Aber dieser Dämon im Weibe, der sich ihrer Seele so ganz rätselhaft und grundlos – scheinbar wenigstens – bemächtigt, hat mein ganzes Interesse wachgerufen. Ich habe einen Antiquar beauftragt, mir die fehlenden Nummern der Zeitung über diesen Fall zu verschaffen, und will daraus studieren und kombinieren. Auch drängt es mich, zu wissen, ob und wie diese Frau bestraft wurde, oder ob der Lauf der Verhandlung entlastende Momente gebracht hat. Der Name – fast hätte ich ihn gehabt – deutsche Namen machen mir immer noch Schwierigkeiten – so etwas wie Stein – Stein – – nein, Berg – Re – Corbomonte! Ich hatte mir den Namen übersetzt, um ihn besser zu verstehen – Ravensburg oder -berg!«
»Darf ich etwas zur Eile mahnen, meine Herrschaften«, krähte Madame Chrysopras, der Spinis Elaborat längst schon langweilig geworden war. »Wir wollen uns doch nicht das Fieber holen auf dem Heimwege, was nach Sonnenuntergang hier auf den Wiesen sehr leicht möglich ist. Also avanti, avanti!« Und Graf Erlensteins Arm nehmend, schritt sie mit diesem voran.
»Es macht mich immer ganz elend, solche Geschichten zu hören«, rief Iris nachfolgend. »Warum soll denn auch nur Weisheit aus den Nachtseiten des Menschenherzens zu schöpfen sein? Ich lobe mir die Weisheit, die von den Höhen des Lebens aus dem Lichte stammt!«
Fürst Hochwald, der den Cavaliere bisher mit einem seltsam gespannten Blick und einem fast peinvollen Zug des Schmerzes im Antlitz beobachtet hatte, wandte sich nun mit einem matten Lächeln zu der holden Sprecherin.
»Und doch müssen gerade diese Sonnenkinder so oft in die Nachtseiten des Lebens tauchen«, sagte er traurig. »Gott behüte dich davor, mein Liebling«, flüsterte er ihr zu.
Sigrid hatte alles gesehen und zermarterte sich den Kopf um die Lösung dieses Rätsels. Warum der gespannte Blick des Fürsten auf den Cavaliere? Warum der Zug von Schmerz auf seinem offenen Gesicht? Und was hatte er Iris zuzuflüstern?
»Ich wollte, ich wäre zu Hause«, stöhnte sie, ihren schmerzenden Kopf senkend. Und dann kam ihr ein Licht –: Der Fürst hatte gesehen, daß Iris an der Erzählung Spinis keinen Geschmack fand, und er hatte darum angstvoll ausgesehen, um ihr etwas Unangenehmes zu sparen. Ja, so war's gewiß – oh, unerträglich!
Doch auch dieser Tag neigte sich, wie seine Vorgänger sich geneigt hatten, und die Sonne sank, ehe die Gesellschaft wieder am Parkeingang stand, wo die Wagen längst ihrer warteten. Hier wollte Madame Chrysopras wieder das vorige Arrangement wie auf dem Herwege einführen, da man aber direkt, das heißt ein jeder bei sich vorfahren wollte und man auf der Piazza Cavour erst hätte wieder umsteigen müssen, so stieß sie auf Widerspruch, drang aber darauf, daß Boris zu der Fürstin und Miß Grant in den Wagen stieg, da sie ja den Fürsten und den Cavaliere hatte. Im innersten Innern ihres Herzens hätte es Madame Chrysopras nicht ungern gesehen, wenn der Cavaliere sich etwas für Saschas Vermögen erwärmt hätte. Besser solch lumpiger Lazzarone als gar keiner, dachte sie mehr praktisch als zärtlich.
Es wurde nach Sonnenuntergang kalt – kalt und rasch dunkel, soweit man die opalartige Abenddämmerung des toskanischen Frühjahrs mit dunkel bezeichnen darf. Der jähe Wechsel der Temperatur aber war nicht so zu fürchten als die weißen, gespenstischen Nebel, die aus den Wiesen aufquollen und phantastisch hin und her schwebten wie ein Geisterheer. Und während in den Wagen der Madame Chrysopras und der Fürstin Ukatschin das Gespräch munter weitergeführt wurde und kaum eine Pause erlitt, war es bei den Erlensteins ganz still. Der Graf saß sinnend und in sich gekehrt da – Sigrid stützte ihren schmerzenden Kopf gegen das Kissen des Landauers, und beiden gegenüber saß Iris, froh, daß sie ihren seligen Träumen nachhängen durfte, in denen sie erst so recht zum Bewußtsein ihres jungen Glückes kam, das ihr reizendes Gesicht zu geradezu engelgleicher Schönheit verklärte.
Daheim angelangt, zog sich Graf Erlenstein sogleich in sein Zimmer zurück, da er sehr müde sei, und erbat sich einen leichten Imbiß. Sigrid stieg, ohne etwas zu sich zu nehmen, sofort in ihr Schlafzimmer hinauf, und Iris verträumte noch allein ein paar Stunden in ihrem behaglichen Mädchenstübchen. Dann ging auch sie nach oben – leise, ganz leise, um Sigrid nicht zu wecken – doch wie erschrak sie, als sie die Schwester in ihrem eigenen Zimmer fand, blaß und mit demselben finstern, fast haßerfüllten Blick wie in der vorigen Nacht. »Endlich!« sagte sie aufstehend. »Ich fürchtete schon, du würdest gar nicht schlafen gehen.«
»Und ich glaubte dich längst schlafend.«
Sigrid hob die Hand, wie um jedes fernere Wort abzuschneiden, und trat dicht vor Iris hin, so dicht, daß ihr mühsamer Atem ihr Antlitz streifte.
»Hast du mir nichts zu sagen?« fragte sie leise, lauernd.
Aber Iris dachte schaudernd der vorigen Nacht.
»Nichts«, sagte sie zitternd.
Da drehte Sigrid sich kurz um und ging ohne »gute Nacht« in ihr Zimmer. Iris aber schob leise den Riegel vor die Verbindungstür, schloß die andere Tür, die in den Korridor führte und sank dann erst aufatmend und wie befreit von einer unbestimmten, aber schrecklichen Furcht in ihr Bett.
Am anderen Morgen kam eine Botschaft von Sascha, welche die beiden Erlensteinschen Mädchen zu einem Gange ins San-Marco-Kloster aufforderte, die Fresken des Beato Angelico zu sehen. Boris sei mit Miß Grant zum Pferdekauf – fügte das Briefchen vorsorglich hinzu. Iris bat indes, zu Hause bleiben zu dürfen, da der Kopf sie schmerze – in Wahrheit aber wäre sie heut nicht imstande gewesen, die Meisterwerke des frommen Mönches unbefangen zu bewundern, heut, wo in wenigen Stunden ihr Schicksal sich entscheiden sollte! Sigrid folgte der Aufforderung Saschas, trotzdem die Kunst der alten Florentiner wenig Verständnis bei ihr fand. Vielleicht auch reizte sie der von ihr der Schwester verschwiegene Zusatz von Saschas Postskriptum: » – hoffe aber, daß Onkel Hochwald uns begleiten wird.« – Als sie nach zehn Uhr das Haus verließ, um zur Villa Chrysopras zu fahren, nahm Iris ihre Geige und ging damit nach oben, um mit ihrem Spiel den Vater nicht zu stören.
Während sie den Bogen über die Saiten gleiten ließ, legte sich das Klopfen ihres Herzens, und es wurde wieder ruhig, ganz ruhig in ihr. Der Bogen folgte wie immer willig ihren Träumen und Gedanken und gab ihnen Ausdruck in goldklaren Tönen, in süßen, schlichten, keuschen Weisen – dem Widerspiel ihrer reinen Seele, ihres eben erwachten jungen Herzens. Und diese laute, beredte, aber nur ihr verständliche Zwiesprache täuschte sie über die Zeit hinweg, daß sie es gar nicht merkte, wie die sonst in diesen Fällen so flügelschwere auf den Tonwellen dahinglitt. Was sollte sie auch um die Entscheidung bangen? Kam nicht der herrlichste Mann um sie zu werben? Mußte es den Vater nicht stolz machen, wenn sein kleines Töchterchen, sein Sonnenschein von ihm, von ihm begehrt wurde?
Sie lächelte glückselig bei dieser wundersamen Gewißheit, und ihre Geige jauchzte einen förmlichen Siegesmarsch.
Da wurde die Tür geöffnet, und Sigrid trat ein.
»Wie, schon zurück?« fragte Iris erstaunt.
»Es ist ein Uhr«, erwiderte Sigrid trocken.
»Ein Uhr!« Iris strich mit der Hand über die Stirn – so hatte sie sich verträumt mit ihrer geliebten Musik?
»Ich hörte unten, Fürst Hochwald sei hier gewesen«, bemerkte Sigrid leicht, und Iris' erstaunte Augen über diese Nachricht sagten ihr überzeugender, als es Ubaldo schon getan, daß sie den Besuch nicht gesehen, nichts von ihm gewußt.
Verwirrt