Sigrid beugte sich wieder über den Stammbaum und trocknete mit einem Löschblatt die noch feuchte Schrift. Plötzlich wandte sie sich um. »Papa, ich habe nicht gewußt, daß du eine Schwester hast – oder hattest«, sagte sie erstaunt, auf eine Eintragung neben dem Namen ihres Vaters deutend. »Marie, geb. 9. Oktober 1842.« Der schmerzliche Ausdruck in Graf Erlensteins Zügen wurde noch peinvoller – er seufzte tief, tief, daß es fast wie ein Stöhnen klang, und drückte Iris fester an seine Brust.
»Ja«, sagte er müde. »Ich hatte eine Schwester.«
»Daß wir bis heut nichts von ihr hörten – ist es nicht seltsam?« – fragte Sigrid, die das Gesicht ihres Vaters nicht sehen konnte. »Ich erinnere mich auch nicht, daß Mama je von ihr gesprochen hätte. Sie ist – – ist sie tot?« setzte sie zögernd hinzu.
»Ja«, erwiderte Graf Erlenstein so rauh, daß Sigrid erschrocken aufsprang.
»O Papa, wenn ich geahnt hätte, daß meine Frage dich so ergreifen würde –!« rief sie, mit Tränen in den Augen.
Graf Erlenstein löste seinen Arm von Iris' Schultern, küßte sie auf die Stirn und ging dann ein paarmal auf und nieder, indes seine Töchter bestürzt und stumm standen und ihm angstvoll mit den Augen folgten. Nach einer kurzen Pause trat er vor sie hin, ruhig und gefaßt.
»Kinder«, sagte er ernst, aber freundlich, »eure Mutter und ich waren übereingekommen, euch nicht eher von dieser meiner – – verstorbenen Schwester Mitteilung zu machen, ehe es nicht notwendig wurde. Ihre Existenz ist von euch in diesem Stammbaum entdeckt worden – was ich euch also darüber sagen kann, mag denn gesagt werden. Ich habe sie einst sehr geliebt – sie starb jung, in der Blüte ihrer Jahre und auf der Höhe ihrerSchönheit. Wenn ihr mich liebt, so sprecht aber niemals von ihr – es macht mir Schmerz –, und wenn Fremde achtlos oder mit Vorbedacht zu euch von ihr sprechen, so weigert euch kurz, von ihr zu reden. Eine traurige Geschichte ist's, die ihr Name in mir neu wachgerufen – doch das Grab deckt sie, und dort mag sie ruhen. Gebt mir die Hand, daß ihr nicht fragen wollt über das ›Wie‹. Es würde den Blütenstaub von eurer Jugend und die Sonne aus eurem Leben nehmen, denn Wissenschaft ist nicht allzeit heilbringend. Versprecht ihr's mir?«
Ein etwas zögerndes »Ja« aus Sigrids Mund, ein lautes, freudiges »Ja« von Iris folgten dem väterlichen Wunsch, und ein doppelter Handschlag, eine doppelte Umarmung besiegelten das Versprechen.
»Ich bin beruhigt«, sagte der Graf fest. »Ein Erlenstein hat noch nie sein Wort gebrochen. Ihr spracht dies ›Ja« zu eurem Heil, liebe Kinder! Iris«, fügte er im selben Atemzuge rauh, entsetzt den starren Blick auf das junge Mädchen heftend hinzu, »Iris – was soll der Fleck – das Zeichen dort auf deiner Stirn – –?«
Erschrocken eilte Iris zu einem Spiegel – und wandte sich lächelnd zurück. »Ein wenig Blut, Papa«, sagte sie weich, beruhigend, und als der Graf blassen Antlitzes zurückwich, fügte sie fast weinend hinzu: »Ich habe mir den Finger an einem Nagel der Kiste dort verletzt und muß mit der kleinen Wunde die Stirn berührt haben!«
»Ja, ja«, sagte Graf Erlenstein, sich gewaltsam fassend. »Ihr seht, ich bin aufgeregt, nervös! – Es ist am besten, wie nehmen unsere Arbeit wieder auf.«
Langsam, schleppenden Schrittes ging er an seinen Schrank zurück, und lange war kein anderer Laut hörbar als das Rascheln der Papiere, denn die Mädchen waren erschreckt und beschäftigt mit dem Erlebten, das so plötzlich, so unvermutet gekommen wie ein Gewitter über einen Alpensee.
Iris kam äußerlich zuerst über die drückende Schwüle dieses Schweigens hinüber – nicht, daß ihr junges Herz nicht schwer gewesen wäre, aber sie fühlte, so ging es nicht weiter, wenn es sie nicht ersticken sollte.
»Was alles in dieser Kiste ist«, begann sie leicht. »Papa, es ist ein regelrechtes Archiv! Doch nein, ich sehe Grund, das heißt auf dem Boden hier noch diverse andere Dinge – Etuis, Behältnisse, wahrscheinlich vollgestopft mit Papieren. Hier ein flaches Etui mit weißem Leder bezogen und erhabenen Goldornamenten – o weh – da liegt's!« schrie sie auf und sah mit gefalteten Händen zu dem Grafen auf wie ein Kind, dem seine beste Puppe aus den Armen geglitten ist.
Es war schwer, ihrer herzigen, liebreizenden Art zu widerstehen, und der Graf nickte deshalb auch freundlich zu ihr herüber.
»Es ist auf den Teppich gefallen, und der ist weich«, sagte er beruhigend. »Heb's auf, Kleine!«
Iris bückte sich und nahm das Etui sorgsam auf. Doch der Fall auf den Teppich hatte genügt, das Schnappschloß aufspringen zu machen, und so sah sie denn den unverletzten Inhalt – ein Frauenbildnis en miniature gemalt auf Elfenbein unter Glas, im Rahmen von weißem Samt, ein blondes, wunderschönes Köpfchen, im lockigen Haar einen Kranz weißer Rosen, den klassischen, weißen Hals und die herrliche Büste hervortretend aus einem tief dekolletierten weißen Spitzenkleide.
»Papa, Papa, o wie wunder-, wunderschön!« jauchzte Iris entzückt auf, denn ihr feines Schönheitsgefühl war lebhaft angesprochen worden durch das Miniatur. »Und das herrliche gemalte Bild – ein Kunstwerk, Papa! Sieh nur, Sigrid! entzückend, nicht? Ist's ein Porträt, Papa? Siehst du, das möcht' ich dir stehlen.«
»Hier wird nichts gestohlen«, erwiderte Graf Erlenstein freundlich und nahm Iris das Etui aus der Hand. »Ein Porträt? Wahrscheinlich«, fügte er hinzu, indem er das Etui in dem Schrank verschwinden ließ.
»Es sieht fast aus wie ein Porträt der Kaiserin Eugenie«, bemerkte Sigrid unbefangen.
»Du hast recht, Kind, es ist eine entfernte Ähnlichkeit«, gab der Graf zu.
»Nur das Haar schien mir zu hell«, fuhr Sigrid fort. »Es hatte, dünkt mich, mehr das Flachshaar, wie Iris.«
»Ja, Sigrid, du aber hast das richtige Eugenienblond!«
Die Kiste war jetzt leer, denn als letztes Stück hob Iris eine wohlverpackte Kassette heraus, die sie sorglich aus Papier- und Lederhüllen zu wickeln begann. Es war eine lange, schmale Kassette mit gewölbtem Deckel, wie eine Truhe, beschlagen mit schwarzem Samt, Silberbeschlägen und zwei Schlössern.
»Die Truhe hab' ich nie vorher bei dir gesehen, Papa«, sagte Sigrid, als sie dem Grafen den Kasten wohlabgebürstet überreichte. »Der schwarze Samt macht sie so düster.«
Schweigend hob der Graf den Kasten in den Schrank. Dann wandte er sich um und sah seine Töchter voll an.
»Diese schwarze Truhe ist das Eigentum von Iris«, sagte er feierlich. »Es ist ein Vermächtnis, das ich für sie aufzubewahren mich verpflichtet habe, bis – bis ich nicht mehr bin. Mein letzter Wille wird das Nähere darüber kundtun. Sigrid, du haftest mir, daß die Truhe in deiner Schwester Hände kommt!«
Stumm reichte das junge Mädchen dem Vater die Hand, Iris aber hatte das Gesicht auf ihren Arm sinken lassen und saß da wie versteint.
Zum Glück klopfte es – es war Ubaldo, der Sigrid in häuslichen Angelegenheiten herausrief.
Als sie das Zimmer verlassen hatte, trat Graf Erlenstein zu seiner Zwillingstochter heran und hob sanft ihren Kopf in die Höhe. »Mein süßes Kind«, sagte er unendlich liebevoll. »Es muß ja nicht gleich gestorben sein, wenn man auch vom Tod einmal spricht!«
»Nein, Papa«, sagte sie leise, fast mit Anstrengung. »Es ist auch nicht das – du weißt, ich würde mich zusammennehmen, um dir's nicht schwer zu machen. Aber es ist so sonderbar – als ich vorhin den Kasten dort in den Händen hatte, da kam es über mich wie – lach mich nicht aus, Papa – wie ein kalter Schauer, der mich durchrieselte wie ein namenloses Entsetzen, und die Glieder sind mir so schwer geworden –«
Aber der Graf lachte nicht. Liebkosend strich er mit der Hand über den blonden Kopf, der sich wie todesmatt an ihn lehnte. Er fand auch keine Worte, ihre Empfindung zu erklären und zu widerlegen.
»Der Mensch ist oft unerklärlichen Gefühlen unterworfen, seelischen Eindrücken, möcht' ich