»Höre, Boris, laß dir raten und nimm die Amerikanerin! Wenn sie dich nimmt, vorausgesetzt! Spini wird unangenehm, wenn er merkt, daß du ihm in den Weg trittst!«
»Na, was denn noch! I, wo werde ich mich denn von solch einem Mensch in meinen Courmachereien stören lassen – überhaupt –«
»Hier ist dein Hotel!« rief der Fürst. »Gute Nacht, alter Junge, und komme morgen früh zu mir, oder wenn dir's sonst paßt – du weißt ja, Via Maggio!«
»Gute Nacht, Onkel, und noch schönen Dank! Nee, wahrhaftig, du bist zu nett – ganz normal!«
Die Hoteltür schloß sich hinter Boris, und der Fürst ging weiter, um über Ponte San Trinitá die Via Maggio zu erreichen.
»Geck mit sehr beschränktem Untertanenverstand, leichtsinnig, aber gutes Herz und dankbaren Gemüts«– das war des Fürsten Urteil über seinen Neffen, und es tat ihm leid, daß er sich seiner nicht früher angenommen und ihn ein wenig gelenkt hatte. Aber das kam von seinem einsamen Leben, seiner Zurückgezogenheit von der Welt, die ihn alles vergessen ließ, was in ihr lebte und webte.
Was für elende Egoisten sind wir Menschen doch, dachte er bitter. Nur das eigene Ich, nur die eigenen Einbildungen sind für uns maßgebend – ob wir Pflichten haben gegen andere oder nicht. Und heut zum erstenmal seit zwanzig Jahren kommt mir die Erkenntnis, daß ich Pflichten habe, Pflichten hatte gegen die vaterlosen Kinder meiner einzigen Schwester! Tief getroffen von diesen Gedanken blieb er mitten auf der Brücke stehen und lehnte sich gegen das steinerne Geländer. Noch war's Nacht – die helle Frühlingsnacht »des Gartens von Toskana«, aber über den rasch dahinfließenden Arno zitterte von Osten her schon das erste blasse Licht des nahenden Morgens wie ein Gruß aus der anderen Welt. Opalartige Dämmerung lag über Florenz mit jener Stille, jener todesähnlichen Ruhe, die dem ersten Sonnenstrahl vorausgeht und für das menschliche Herz so tief ergreifend ist mit ihrer unsäglichen Erhabenheit. Und doch war's ein Menschenname, der sich beim Anblick dieses ungewissen Lichtes auf die Lippen des einsamen Mannes auf der Brücke drängte – ein Frauenname: »Iris«. –
Und wenn ich darum zwanzig Jahre meines Lebens in krassem Egoismus vergraben hätte in die Einsamkeit, damit inzwischen eine Blume für mich keimte, sproßte und erblühte –? dachte er, denn nichts in der Welt ist der Hoffnung zugänglicher als das menschliche Herz, für das sie ja freilich auch erschaffen wurde, diese freundlichste der drei göttlichen Schwestern. Freilich, im nächsten Augenblicke schon wehrte er dem lieblichen Bilde, und es fiel ihm dabei ein Lied ein, ein jetzt veraltetes Lied, das ihm stets unerträglich sentimental erschienen war:
»Und doch – was soll die Blüte
Am welken Baum?«
War er ein welker Baum? Schon, jetzt schon? Er dehnte die kräftige Brust und reckte die starken Arme – nein, er war kein welker Baum, er stand auf der Höhe des Lebens, eine Eiche, die zwar einmal ein Blitzstrahl getroffen, doch dünkte ihm die Wunde vernarbt, ohne die Wurzeln und das Mark geschädigt zu haben.
Dann aber kamen ihm andere Zweifel. Die Kinder seiner Schwester nannten ihn »Onkel« – war's da nicht ganz naturgemäß, daß sie, daß Iris sich ihn auch als solchen nur dachte? »Onkel« – wie ernüchternd, wie schrecklich patriarchalisch, wie jeden raschen Pulsschlag dämpfend ist das Wort. O ja, man liebt einen Onkel, man scherzt und lacht harmlos mit ihm oder vertraut ihm seine Sorgen an und stickt ihm Sofakissen und Schlummerrollen – – –«Saschas Onkel« wird sie ihn nennen, dem ihr holdes, reines Bild so mächtig das totgeglaubte, künstlich begrabene Herz geöffnet, er hörte es sie förmlich neben sich sagen mit ihrer süßen, lieben Stimme – –
Aber in all diese ernüchternden, qualvollen Zweifel drängte sich doch das schönste Wort, das die Sprache für solche Stunden birgt – das kleine Wort: »vielleicht« –. Es hat schon Lehrsätze umgestoßen, Dogmen vernichtet, warum also sollte es in Herzensfragen keine Stimme haben? Freilich hat es sich öfters trügerisch als heilbringend erwiesen, aber dennoch kommt dieses »vielleicht« mit einem solch blendenden Gefolge von süßen, lockenden Zukunftsbildern, daß der schärfste Verstand schon vor ihm geschwiegen und ihm den Platz geräumt hat. Und darum schwiegen auch in Marcell Hochwalds Brust alle Zweifel, als das schmeichelnde »vielleicht –« ihm nahte, und mit der Gier eines Verdurstenden sog er das süße Gift ein, das heilen kann, aber öfter noch vernichtet. Wohl hatte seine Waage zwei Schalen – in der einen lag der »gute alte Onkel« von Boris und Sascha Chrysopras schwer wie Blei, in der anderen aber stand er selbst mit seinem redlichen treuen Herzen, seinem vornehmen Charakter, seinem tadellosen Ich! Und dabei kam's ihm gar nicht einmal in den Sinn, seinen Reichtum und seine Fürstenkrone mit in die Waagschale zu legen, denn was hat das für Wert, wenn das Herz wägt?
Höher richtete er sich auf. – Das Wörtchen: »vielleicht« machte sein Herz hoffnungsfreudig. – »Vielleicht –«
Unter der Brücke rauschte der Arno dahin, hinab gen Pisa zur Vereinigung mit dem blauen Tyrrhenischen Meer. Im Osten stieg jetzt ein blutroter Schimmer auf, und von den Apenninen her strich ein eisiger Hauch über das Wasser. Marcell Hochwald zuckte fröstelnd zusammen, und langsam verließ er die Brücke, Hoffnung und Entsagung in wunderlichem Gemisch im Herzen. Am Morgen, der dem Rout bei Madame Chrysopras folgte, hatte Iris Erlenstein die Zeit verschlafen. Nicht lange, aber für die frühen Gewohnheiten des Hauses immerhin ein Stündchen, und entsetzt fuhr sie beim Erwachen auf, als sie Sonnenstrahlen durch die Jalousien auf dem Fußboden tanzen sah. Verwundert rieb sie sich die Augen – ihr hatte so schön geträumt, sie wußte nicht mehr genau, was; aber sie war durch goldene und rosige Wolken geschwebt, immer höher und höher, trotzdem Sigrid unten stand und sie am Kleide festhielt und Boris Chrysopras verzweifelnd die Hände rang. Wie sie daran dachte, mußte sie lachen, da war alle Müdigkeit fort, und sie stand auf und kleidete sich schnell an. Die Komtessen Erlenstein hatten zwar eine sogenannte »Cameriera«, die sie frisieren konnte und ihre Kleider machte, aber sie bedienten sich meist allein und zogen vor, ihr eigener Herr und unabhängig zu sein. Deshalb ging auch die Morgentoilette der Gräfin Iris flink vonstatten aus Übung – das flachsblonde Haar war im Nu in seinen zierlichen Knoten auf der Höhe des kleinen Köpfchens geordnet, das frisch und reizende, trotz seiner Einfachheit allerliebste Negligé von lichtblauem Flanell übergeworfen –, dann flog die zierliche Elfengestalt durch den breiten, langen Korridor und über die Steintreppe hinab in das untere Geschoß des alten, geräumigen Palastes, den der Graf gemietet.
Unten stand Gräfin Sigrid im gleichen Morgenkleide, eine weiße Schürze sorglich vorgebunden, einen Schlüsselkorb am Arm, und ließ eine umfangreiche Kiste in einen weiten, mit Fresken am Tonnengewölbe geschmückten, getäfelten Raum schaffen, den Graf Erlenstein für seinen Spezialgebrauch bestimmt hatte. Er liebte es, bei seinen Studien auf und ab zu gehen, und deshalb waren ihm die modernen Mietwohnungskäfige ein Greuel, in denen ein Mensch wohl sitzen, aber sich nicht bewegen konnte. Der alte Palazzo am Borgo degli Albizzi war wohlfeil zu haben mit seiner ganzen Einrichtung, und der Graf hatte ihn gemietet unter der Bedingung des Vorkaufsrechtes, falls ein Käufer dafür auftreten sollte. Einmal mußte er doch irgendwo fest ansässig werden, und da sagte ihm Florenz am meisten zu, und vor allem war der Palazzo genau das, was er suchte. Die Einrichtung war im oberen Geschoß, in dem die Schlafzimmer, Diensträume und Werkstätten für Hausarbeit lagen, nur sehr lückenhaft, wurde aber durch die eigenen Möbelstücke ergänzt, während das untere Geschoß mit dem eben beschriebenen Gemach, dem Speisesaal, dem »salone« und zwei kleineren Gemächern für die jungen Gräfinnen vollkommene, wenn auch in den Überzügen stark verblichene Einrichtungen aufwiesen. Auch gab es da allerhand verborgene Schränke, geheime Verstecke und Kabinettchen, wie sie eben nur ein italienischer Palazzo aus der Blütezeit der Medici, dem »Cinquecento«, haben kann. Die Einrichtung der meisten Zimmer, mit Ausnahme des Salons, der im Empirestil eingerichtet war und als Deckengemälde eine Kopie von Guido Renis »Aurora« zeigte, stammte aus der Blütezeit der Medici. All diese Möbelstücke hätte man beim Antiquar mit Gold aufwiegen müssen, aber die Erben hatten über den Verkauf nicht einig werden können, sie hatten die kostbarsten und seltensten Stücke untereinander verteilt und das übrige vorläufig stehenlassen, in der Hoffnung, daß es irgendeinen »Inglese« reizen würde, den ganzen großen alten Steinhaufen von Palazzo mit zu kaufen, zu welchem