Noch ehe Rose die Lektüre beendet hatte, war drinnen im Achteck leise die Tür aufgegangen, und van der Lohe, ungehört von der vertieften Leserin, trat auf die Plattform heraus. Lord, die prächtige Dogge, die ihn begleitete, betrachtete verwundert die auf den Steinstufen Sitzende eine Weile und legte, als Rose sich nicht umsah, mahnend seine große, schwere Pfote auf ihre Schulter.
Sie stieß einen Schrei aus, sprang schnell empor und rief: »Nein, aber – einem solch einen Schrecken einzujagen!«
»Haben Sie ein so böses Gewissen?« fragte van der Lohe lachend.
»Es geht noch an,« erwiderte sie im gleichen Tone, dann aber, als ihre Blicke auf das Manuskript in ihrer Hand fielen, wurde sie rot. »Wahrhaftig, mein Gewissen ist nicht ganz rein, ich kann mich nicht einmal entschuldigen, denn ich fand diese Blätter zwischen den Seiten der Merianschen Chronik, und es ist eigentlich unverantwortlich von mir, daß ich sie las. Was werden Sie von mir denken, Herr van der Lohe?«
Er trat näher und nahm Rose das Manuskript aus der Hand.
»Ach, die Geschichte von Maurus Magyar?« sagte er. »Nun, ihre Schuld ist nicht groß, denn das Geschick meines armen Freundes ist weltbekannt. Daß ich's in schlechte Verse brachte, ist meine Sünde gegen die Poesie.«
»Wie?« fragte Rose mit großen Augen, »der unglückliche Künstler war Ihr Freund? Ist diese Dichtung ganz und gar Wahrheit?«
»Ja,« erwiderte van der Lohe so kurz, daß Rose ihn betreten ansah.
»Verzeihen Sie meine Frage,« sagte sie, »ich wollte Ihnen nicht wehe tun.«
»Davon kann keine Rede sein, Fräulein Eckhardt! Maurus Magyar war mein Freund; er war eine großzügig angelegte Natur, Künstler mit Leib und Seele, ein prächtiger, heiterer, liebenswürdiger Mensch. Aber er verfiel seinem Schicksal. Er, der stets über Liebe und Herzensgeheimnisse gespottet hatte, ging an dieser einen großen Leidenschaft zugrunde.«
»Der arme Mensch,« sagte Rose leise; dann fragte sie schüchtern: »Und die Frau, – was ist aus ihr geworden?«
Van der Lohe zuckte mit den Achseln.
»Was sollte aus ihr werden? Sie ist eine ›Dame ohne Herz‹, und Leute, die statt eines Herzens nur einen hohlen Muskel in der Brust haben, pflegen sich ihr Leben nicht mit Reue zu verbittern. Sie erzählt sehr gern, daß der berühmte Maurus Magyar bei ihrer Hochzeit gespielt.«
»Ist's möglich?« rief Rose entrüstet, »wie kann es solche Menschen geben!«
»Das ist eben das große Rätsel der Natur,« sagte van der Lohe, »warum wird das Herz des einen fühlend, das des anderen dagegen hart geschaffen? Und unter all diesen Rätseln ist das größte und nie zu erratende – das Weib!«
Über Roses Lippen huschte ein Lächeln.
»Sie gelten für einen Weiberfeind, sagt Carola!«
»So?« rief er, sichtlich erheitert. »Ist Carolas Weisheit damit erschöpft?«
»Ach, es wäre Ketzerei, alles zu wiederholen.«
»Gut, auf die Gefahr hin.«
»Nun, sie meint, daß sich die schlimmsten Weiberfeinde immer gerade am leichtesten bekehren ließen, und daß Sie es überhaupt nur seien, um sich interessant zu machen.«
Jetzt lachte van der Lohe wirklich herzlich, und Rose fand, daß es ihm sehr gut stand.
»Sie müssen Carola aber nicht verraten, daß ich's Ihnen wieder erzählt habe,« sagte sie mitlachend.
»Ich werde mich hüten,« erwiderte er freundlich, »meine Kusine würde mir eine Flut von Beweisen an den Kopf werfen.«
»Und wenn diese stichhaltig sind?« fragte Rose neckend.
»Carolas Beweise sind immer stichhaltig. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sich ihnen zu unterwerfen, wenn man Ruhe haben will.«
»Wem unterwerfen, Jo?« fragte eine dritte, leise verschleierte Stimme vom Achteck her.
Van der Lohe wandte sich hastig um und sah sich Frau von Willmer gegenüber, die zwar lieblich lächelte, aber ein aufmerksamer Beobachter konnte sehen, daß ihre Nasenflügel zitterten und ihre Augen forschend die Gruppe musterten.
»Du erscheinst ja unhörbar wie ein Geist,« sagte er ruhig.
»Nicht wahr?« lächelte sie, »ich wollte dich überraschen.«
»Sehr liebenswürdig,« entgegnete er ironisch.
»Ich habe nämlich Lust bekommen, ein wenig in diesen alten Bücherschätzen zu stöbern,« fuhr sie fort. »Die ehrwürdigen Folianten haben für mich etwas Magnetisches – sie ziehen mich an.«
»Seit wann, Olga?« fragte van der Lohe spöttisch.
»O, von je her!«
»Nun, im vorigen Jahre erklärtest du noch, diese alten Staubfänger gräßlich zu finden und eine ganze Bibliothek davon für einen einzigen französischen Roman herzugeben.«
Olga von Willmer wurde rot.
»Ich weiß, das habe ich mit voller Absicht gesagt,« rief sie schnell gefaßt.
»Daran zweifle ich nicht; du hast es Baron Hahn so laut zugeflüstert, daß ich es nicht überhören konnte,« entgegnete van der Lohe lachend.
»Ich wollte dich necken,« erklärte sie mit ihrem berühmten Augenaufschlag.
»So? Jedenfalls hat dein Geständnis mir die beruhigende Gewißheit gegeben, daß du neben englischer Sonntagslektüre und Andachtsbüchern auch noch französische Moral in dich aufnimmst,« gab er prompt zurück.
Frau von Willmer lächelte gezwungen. »Also ist mir meine Neckerei doch gelungen,« rief sie, scheinbar strahlend vor Fröhlichkeit.
»Vollkommen,« bestätigte van der Lohe ironisch. »Sie wurde noch gelungener, als ich letzten Winter in einem Buchladen der Residenz eine Anzahl Bücher liegen sah, von denen man nicht weiß, ob man den Verfasser mehr bedauern soll oder den Leser. Auf meine Frage, welche Sorte von Publikum diese Bücher liest, wurde mir dein Name genannt, du hattest sie bestellt.«
Wenn Olga von Willmer vorhin rot geworden war, so wurde sie jetzt blaß und biß sich auf die Lippen, daß sie bluteten. Ihre sanften, dunklen Augen sahen nichts weniger mehr als sanft aus.
Rose war dieser Auftritt entsetzlich peinlich; sie wäre am liebsten in den See gesprungen und fortgeschwommen, zum mindesten wünschte sie sich Doktor Fausts Käppchen, um sich unsichtbar zu machen.
»Es ist wohl bald Teestunde,« sagte sie schüchtern, »ich muß nach der Villa zurück.«
Van der Lohe trat zur Seite, um sie vorüber zu lassen, Olga aber benutzte sie sofort als einen willkommenen Blitzableiter ihres inneren Zornes.
»Ah, Sie sind hier, Fräulein Eckhardt?« fragte sie schneidend, als sähe sie Rose überhaupt jetzt erst.
»Ja, glaubtest du, Olga, daß ich vorhin, als du gleich einem deux ex machina erschienst und mir das letzte Wort von den Lippen nahmst, mit mir selbst gesprochen hätte?« fragte van der Lohe lachend, aber mit warnendem Ton.
Frau von