»Lebt sie?« fragte Frau van der Lohe in ihrer Tür, »nun gottlob – mir tat das liebe Mädchen so leid.«
»Ich werde einen Dankhymnus komponieren,« erklärte Leßwitz, und bald darauf erdröhnte der Bechstein unter seinen Händen in den großartigsten Dissonanzen.
»Man sollte es nicht für möglich halten!« sagte Olga von Willmer mit höhnisch verzogenem Munde. »Wird nicht ein Wesen um Tantes Vorleserin gemacht, als wäre sie eine Prinzessin? Ich zweifelte keinen Augenblick an ihrem Aufleben – solche Personen haben derbere Lebenskräfte als wir.«
Van der Lohe wandte sich heftig zu seiner Kusine um. »Schäme dich, Olga,« sagte er leise, aber sprühend vor Zorn und ging dann, ohne sich um jemand zu kümmern, in sein Zimmer zurück.
Am selben Abend noch erschien Rose, nachdem sie einige Stunden erquickend geschlummert hatte, unten im Gesellschaftszimmer, zwar noch etwas blaß, aber desto lieblicher aussehend.
»Ich habe Ihnen allen so viel zu danken,« sagte sie herzlich auf die Beglückwünschungen, mit denen sie überschüttet wurde, mit Ausnahme von Frau von Willmer die stumm und teilnahmslos am Flügel saß und die Tasten betrachtete.
Der Abend verlief unter mannigfachen, lebhaften Gesprächen, bei denen sich Sonnenberg durch grauenvolle Hexameter beteiligte, die er stolz »Distichen« zu nennen beliebte. Leßwitz spielte heute aber wenig, und dann, den angegriffenen Nerven Roses zuliebe, nur sehr sanfte Weisen.
»Ich möchte ein Lied singen,« sagte Rose, bevor man aufbrach, und Leßwitz setzte sich sofort wieder an den Flügel.
Van der Lohe, der heute abend besonders schweigsam gewesen war, trat an Rose heran.
»Sie sollten lieber nicht singen,« sagte er halblaut zu ihr.
»Aber ich möchte so gern,« entgegnete sie bittend, »es ist mir heute ganz nach einem frohen Liede zumut.«
»Nun, so singen Sie, – Heideröslein.«
Er hatte es kaum hörbar gesprochen, mehr wie für sich, aber Rose hörte es doch. Sie sah zu ihm auf, halb froh, halb erschreckt, als hätte sie sich verhört, und bückte sich dann rasch, um in den Noten zu suchen, von denen sie ein Blatt dann auf das Pult legte.
Leßwitz schlug die ersten Akkorde eines herrlichen Frühlingsliedes von Reinecke an, und Rose fiel mit ihrer weichen und doch vollen, silberhellen Stimme ein:
»Im Walde lockt der wilde Tauber –«
Sie fühlte es selbst, daß sie so wie heute noch nie gesungen hatte, mit einer Teilnahme ihrer Seele, die ihr bisher fremd gewesen, besonders bei dem Schluß:
»Und morgens in der roten Frühe
Erwacht mein Herz so reich und froh,
Als wüßt' es, daß sein Glück ihm blühe,
Und müßte nur noch raten, wo.«
Van der Lohe hatte sich, ohne »gute Nacht« zu wünschen, entfernt und war hinausgegangen in die sternenklare, warme Juninacht, bis an den See und seinen Lieblingsplatz auf dem Söller der Klosterruine. Hier hatte er sie zuerst gesehen.
»Ich brauche nicht mehr zu raten, wo mein Glück blüht,« sagte er laut, »aber es wird noch manchen Kampf geben, ehe ich's erreichen kann.«
Rose war nach dem allgemeinen Aufbruch auf dem Wege nach ihrem Zimmer, als Olga von Willmer sie überholte, sie hart am Handgelenk packte und mit blitzenden Augen ihr zuflüsterte: »Gute Ruh', Heideröslein, träumen Sie nur nicht allzu kühn! Ihr Sieg ist noch sehr unentschieden, denn ich stehe zwischen ihm und Ihnen und werde ihn verhindern, trotzdem ich kein ›Loreleihaar‹ und keine ›gold'nen Augen‹ habe.«
Damit entfernte sie sich rasch, ehe Rose wußte, wie ihr geschah – sie verstand überhaupt nicht, was Olga eigentlich gewollt hatte und dachte auch nicht lange darüber nach, denn sie war noch recht erschöpft von dem heutigen Unfall.
Bald schlief sie ein, in dem Zustand zwischen Wachen und Schlafen aber wiederholten ihre Lippen noch die letzten Worte des Liedes:
»Und morgens, in der roten Frühe
Erwacht mein Herz so reich und froh,
Als wüßt' es, daß sein Glück ihm blühe,
Und müßte nur noch raten, wo.«
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden!
Goethe
Nachdem Rose für vollständig gesund erklärt worden war, gestaltete sich das Leben in Eichberg sehr angenehm. Besonders waren es die Morgenstunden, die nicht nur Rose allein, sondern auch der Mehrheit der auf Eichberg Anwesenden eine Quelle der angenehmsten Genüsse wurden.
Frau van der Lohe begab sich nach dem allgemeinen Frühstück oft zur Sitzung in die Künstlerwerkstatt im Park, und während Professor Körner an ihrer Büste arbeitete, las Rose vor, oder der Künstler selbst erzählte ein Begebnis seines vielbewegten Lebens.
In neuester Zeit hatte auch Sonnenberg seine Staffelei in die Werkstatt gebracht und malte mit wahrem Feuereifer, wenn ihn die Erzählung nicht gar zu sehr fesselte, das heißt wenn er Rose nicht ansah. Er stand wie ein Held vor seiner Leinwand, in der Linken ein Bündel Pinsel, Palette und Malstock, in der Rechten den ausübenden Pinsel, das semmelblonde Haar in den Nacken geworfen. Natürlich verzichtete er auch nicht auf den Sammetrock, der an ihm den Künstler betonte.
Sonnenberg war nicht talentlos, er besaß eine hübsche Technik und vor allem jenes ganz besondere Etwas, das die Künstler »Mache« nennen, aber er hatte keine Ausdauer und kam vor lauter Entwürfen und Plänen nicht zum Malen. Nun war aber binnen zwei Monaten eine große Kunstausstellung in Aussicht, und Sonnenberg schwur, dabei vertreten sein zu müssen. Er spannte zu diesem Behuf Leinwand auf einen Blendrahmen und ließ ein stattliches Regiment von Ölfarbentuben vor sich aufmarschieren.
»Der Name Theophil Sonnenberg wird in alle Weltteile dringen, wenn das erstaunte Publikum erst mein Werk gesehen hat,« sagte er mit dem edlen Selbstbewußtsein, das den Künstler ziert.
Er begann auch wirklich zu malen, ein nicht eben neues, aber beliebtes Motiv; ein junges Mädchen in der Tracht des deutschen Mittelalters an einem säulengetragenen gotischen Burgfenster stehend, den Falken auf der Hand, war bald keck auf die Leinwand mit Kohle geworfen, – daß das Burgfräulein erst Roses Haarfarbe und später auch ihre Gesichtszüge annahm, war nicht ganz Zufall.
Carola stachelte dabei seinen Eifer durch ihren lustigen Spott noch mehr an, der ihr weder von ihm noch von den anderen übelgenommen wurde.
»Ich nehme hier den beneidenswerten Rang eines enfant terrible ein und gedenke diesen Vorzug auch auszubeuten,« sagte sie lachend. Übrigens beteiligte sie sich regelmäßig bei den Werkstattversammlungen, und auch van der Lohe erschien mitunter, regelmäßig von Frau von Willmer gefolgt, die sich sonst selten zeigte, ebenso wie Leßwitz, der viel übte.
Es war ein heißer Tag gewesen; die Sonne sank hinter die westlichen Hügelketten, Himmel und Erde in Gold tauchend, als Rose nach vollbrachter Pflicht sich zu einem Spaziergange anschickte. Sie hatte vor, um den See zu gehen, aber als sie das Ende der Allee erreicht hatte, fühlte sie sich ermüdet und wendete sich nach der Klosterruine – zum ersten Male seit dem Abend ihrer Ankunft. Eine gewisse Scheu hatte sie immer abgehalten, den alten Bau aufzusuchen; sie wußte, daß van der Lohe in dem Turmzimmer oft und gern weilte, und mochte ihm dort nicht begegnen, in der Furcht, für unbescheiden oder zudringlich gehalten zu werden. Aber heute war er in Geschäften verreist und wurde erst morgen zurückerwartet, daher betrat sie sorglos das alte Gemäuer, betrachtete mit Interesse erst den mit Kreuzgängen umwundenen Klosterhof und stieg sodann in das Achteck hinauf, wo es kühl und wunderbar traulich war.
Sie nahm einen schweren, in gepreßtes und vergoldetes Leder gebundenen Band von dem Tisch am Fenster, eine alte Chronik mit Merianschen Kupferstichen; dann ging sie mit dem Buche auf den Söller, setzte sich wie an dem ersten Abend auf die Treppe und versenkte sich in den wunderbaren Anblick des im