»Fräulein Eckhardt, Sie haben Ihr Taschentuch fallen lassen,« rief Baron Hahn, ihr nachgehend. »Schließen wir Freundschaft, Sie kleine Hexe!«
»Ich bedauere,« entgegnete Rose kalt, »solange ich Ihre Freundschaft nicht fordere, bitte ich, mich damit zu verschonen.«
Baron Hahn biß sich auf die Lippen, sagte aber nichts weiter, und Rose nachsehend, murmelte er vor sich hin: »Gemach, kleiner Rotkopf! Es ist noch nicht aller Tage Abend, und die zuerst am sprödesten sind – beim Jupiter, ich kenne die Weiber!«
Rose mußte sich, ehe sie an Frau van der Lohes Tür anklopfte, erst sammeln. Sie war empört; war es doch zum erstenmal, daß ein Unverschämter es wagte, ihr in dieser Weise zu begegnen. Jetzt fielen ihr Frau von Hochfeldens Worte ein, die sie gewarnt, daß ein alleinstehendes junges Mädchen Anfechtungen ausgesetzt sei. Aber wie hätte sie wissen können, daß es Männer gab, die gewissenlos genug wären, sich die Schutzlosigkeit eines jungen Mädchens zunutze zu machen – sie wußte ja überhaupt nichts von der Welt.
Der kurze Auftritt am Springbrunnen zitterte heftig in ihr nach, aber sie nahm sich tapfer zusammen, trocknete eine verräterische Träne und stellte sich vor, wie Frau von Hochfelden sich selbst klagend Recht geben würde, könnte sie das »mutige Heideröslein« hier stehen sehen, zitternd und blaß über die Frechheit eines Menschen, den sie ja mit Verachtung strafen konnte. »Gott bewahre,« dachte sie, »will das Küchlein schon bei dem ersten Anflug einer eingebildeten Gefahr unter die Flügel ihrer Schützerin zurückflüchten? Schöner Mut, das!«
Ohne sich weiter zu besinnen, klopfte sie an der ihr bezeichneten Tür an und trat in das Zimmer von Frau van der Lohe, einen elegant, aber behaglich eingerichteten Raum, den kostbare, mit Seidenstoff überzogene Möbel dermaßen anfüllten, daß ein mit dieser Überfüllung nicht Vertrauter unfehlbar auf dem kurzen Weg von der Tür bis zum Sofa ein dutzendmal anrennen mußte. Rose wand sich geschickt durch das Chaos bis zu dem Lehnstuhl, in dem die alte Dame saß, vor sich einen Tisch, mit Büchern und Zeitungen bedeckt. Zu ihren Füßen saß auf niederem Taburett Frau von Willmer.
»Sie sind pünktlich, liebes Fräulein,« sagte die alte Dame gnädig, »ich liebe das. Sie sehen vor mir diese Bücher, wir wollen unter ihnen wählen!«
Rose verneigte sich. Sie hegte gerechten Zweifel in betreff des »wir wollen wählen«, aber Frau van der Lohe war sicher gut gelaunt, da sie das »wir« gebrauchte, wenn es auch in dem Sinne geschah, wie gekrönte Häupter von sich reden: »Wir von Gottes Gnaden, König von usw.«
Frau von Willmer erhob sich.
»Ich will nicht weiter stören,« sagte sie. »Sahen Sie meinen Vetter, Herrn van der Lohe, Fräulein Eckhardt? Ist er noch in der Künstlerwerkstatt?«
»Nein, gnädige Frau.«
»Gingen Sie mit ihm ins Haus?«
»Herr van der Lohe schlug den Weg nach dem See ein,« sagte Rose wahrheitsgetreu. »Nach dem See? Dann ist er im alten Kloster. Desto besser. Auf Wiedersehen, Tantchen!«
»Nun, Fräulein Eckhardt, nehmen Sie Platz,« sagte Frau van der Lohe gnädig, »und wählen wir.«
Da Rose versicherte, daß »sie sich ganz den Wünschen der gnädigen Frau unterordne«, »wählte« diese ein schon aufgeschlagen daliegendes Buch, und Rose begann ihr erstes Tagewerk.
Indes verließ Frau von Willmer ohne Verweilen die Villa und trat hinaus in das Freie. Sie schlug direkt den Weg nach dem See ein, während sie im Gehen ein paar feine Löckchen ihres blauschwarzen Haares über die weiße Stirn herabzog; aber als sie eben die Allee zum See betrat, kreuzten ihren Weg, von einem Seitengange kommend, Baron von Hahn und Herr von Sonnenberg, und beide hefteten sich sofort an ihre Sohlen. Der Unmut ließ sie ihre Taubensanftmut diesmal vergessen, denn der arme Sonnenberg erhielt für ganz unschuldige Bemerkungen scharfe Antworten von ihr, die Hahn dann beißend zurückgab. Hätte sie geahnt, daß sie das Opfer eines Komplottes war, ihr Zorn wäre noch größer gewesen, denn als die beiden Herren ihrer von weitem ansichtig wurden, sagte Hahn lachend:
»Sonnenberg, Sie müssen mir einen Gefallen tun!«
»Tausend für einen.«
»Danke für den guten Willen. Wir müssen Frau von Willmer durchaus im Gespräch so fesseln, daß sie diese Allee nicht verlassen kann.«
»Aber warum, verehrtester aller Hähne –«
»Ein Scherz, lieber Sonnenberg! Eine kleine Rache vielleicht, wenn Sie wollen, jedenfalls ganz harmlos.«
»Meinetwegen.«
So kam es denn, daß der semmelblonde Kunstjünger, als er Olga mit folgenden Verszeilen begrüßte:
»Leicht nur eilst du dahin, geführt von Schmetterlingsschwingen,
Selber vergleichbar Libellen. Sag', wohin du nun eilst?«
die prosaische Antwort erhielt:
»Sie können einen nervös machen mit Ihren ewigen Hexametern, Sonnenberg! Mir scheint, Sie bedienen sich dieser hinkenden Versfüße nur, um Ihre Neugierde in ein anständiges Gewand zu hüllen.«
Aber Sonnenberg ließ sich nicht abschrecken. Ein lachender Blick, ihm von Hahn heimlich zugeworfen, feuerte ihn neu an, und als nach fünf Viertelstunden, in welcher Zeit Theophil das Blaue vom Himmel schwatzte und Baron Hahn doppelsinnige und sehr aufreizende Bemerkungen machte, Olga endlich ihre Plagegeister los wurde und nun flüchtigen Fußes nach der Klosterruine eilte, war diese leer. Der, den sie suchte, hatte sie längst verlassen. Und nun genossen die alten Mauern das seltene Schauspiel, daß die engelsanfte Olga von Willmer vor Wut die Wände mit den Fäusten schlug und das schöne Madonnengesicht sehr aus seiner Ruhe brachte.
Und morgens in der roten Frühe
Erwacht mein Herz so reich und froh,
Als wüßt‹ es, daß sein Glück ihm blühe,
Und müßte nur noch raten, wo.
Geibel
Rose hatte sich bald auf Eichberg eingelebt und betrachtete seine Bewohner mit unbefangenen Augen. Sie konnte sich nun selbst eine Meinung bilden, fand aber, daß Carola bis auf einige Übertreibungen richtig gezeichnet hatte. Baron Hahn begegnete ihr seit jenem Vorfall am Springbrunnen ganz unbefangen, sie hingegen begegnete ihm mit einer Kälte, die ihn, wenigstens vor anderen, in seinen Schranken halten mußte. Im ganzen fühlte sie sich wohl hier. Sie mußte des Tages Frau van der Lohe mehrere Stunden vorlesen und tat es zu deren größter Befriedigung; ihre freie Zeit benutzte sie zu kleinen Ausflügen an den See und weiter, und die prächtige, etwas romantische Landschaft war ihr bald so lieb geworden wie der heimatliche Wald. Carola begleitete sie mitunter auf ihren Spaziergängen, sie war die einzige, an die sie sich näher anschloß, außer an Professor Körner, dem sie oft bei seiner Arbeit Gesellschaft leistete, und der ihr eine warme Freundschaft entgegenbrachte.
Mit van der Lohe kam sie nur wenig in Berührung. Er war bei den Mahlzeiten und bei der allabendlichen Versammlung im Wohnzimmer meist schweigsam oder saß mit dem Professor in ernste Gespräche vertieft.
Rose hatte einst im Park für sich ein kleines Volkslied gesungen und war dabei von Herrn Leßwitz überrascht worden, der sofort behauptete, man müsse sich Roses Stimme, die ein ungeschliffener Diamant sei, annehmen .
Da er die Absicht äußerte, Rose im Gesang selbst zu unterrichten, so lud ihn Frau van der Lohe ein, bis zum Herbst, in dem er eine große Konzertreise beginnen wollte, in Eichberg zu bleiben und die ländliche Stille zu seinen Studien zu benutzen. Herr Leßwitz nahm die Einladung sehr gnädig an, in seinem Innern überzeugt, daß man bei den van der Lohes die Ehre seiner Anwesenheit zu würdigen verstehe, und begann nun, Roses Stimme in die Schule zu nehmen.
Mochte nun seine Lehrweise wirklich gut oder Roses Talent den Schwierigkeiten gewachsen sein, kurz, sie machte große Fortschritte, und es konnten bald