»Ja – ganz recht, im Klub. Es war an jenem Abend«, Graf Erlenstein dämpfte die Stimme, »an jenem Abend, als meine Schwester verhaftet wurde. Oh, man vergißt solche Tage nicht.«
»Nein, man vergißt solche Tage nicht«, wiederholte der Fürst, indem ein Zug tiefsten Schmerzes über sein Gesicht ging. Und erst nach einer beredten Pause setzte er hinzu: »Sie haben den Süden ganz zu Ihrer Heimat gemacht, Graf Erlenstein?«
»Die Gesundheit meiner Frau erforderte damals einen Winter im Süden – die Ereignisse haben ihn dann für eine neue Heimat wünschenswert gemacht«, erwiderte der Graf. »Wir haben mehrere Jahre in Kairo zugebracht und sind dann nach der italienischen Küste des Mittelmeeres gezogen, wo wir so lange blieben, bis unsere Töchter schulreif wurden. Dann lebten wir in Neapel, später in Rom, und dort starb meine Frau. Sie ruht auf dem Cimitero del Tedeschi am Vatikan. Rom wurde mir durch diesen schweren Verlust verleidet, und nun sind wir hier und haben vor kurzem ein schönes altes Haus gemietet. In zwanzig Jahren haben wir also viermal den Wohnort gewechselt – für uns seßhafte Deutsche ist das fast ein Nomadenleben. Aber Rom wurde unerträglich für mich, der den guten Geist des Hauses begraben mußte, und nachdem ich's fast zwei Jahre versucht, mich zu beherrschen, mußte ich nachgeben. Solche Schicksalsschläge machen weiß vor der Zeit. Aber ich darf nicht undankbar sein, denn meine Zwillinge machen mein Haus heiter und füllen es mit Sonnenschein – wenn's nur immer so bliebe«, schloß er mit einem Seufzer.
Fürst Hochwald hatte mit dem größten Interesse zugehört. Er war durch diese Begegnung mit dem einst lieben und sympathischen Bekannten – zu einer Freundschaft in diesem Sinne war es noch nicht zwischen ihnen gediehen – aufs tiefste bewegt, und manche Frage drängte sich ihm auf die Lippen, die er indes nicht aussprach. Hier war nicht der Ort dazu, darum kehrte er zu dem leichteren Umgangston zurück.
»Sind die jungen Gräfinnen, Ihre Töchter, hier, und wollen Sie die Güte haben, mich Ihnen vorzustellen?«
Graf Erlenstein sah sich prüfend um.
»Sie gingen, um ein von Fräulein Chrysopras gemaltes Bild anzusehen«, meinte er. »Ich glaube, es war in dem kleinen Boudoir am Ende der Zimmerflucht, das als Atelier dient. Dort müssen wir meine Mädchen noch finden.« –
Fürst Hochwald folgte dem Grafen durch einen kleinen Salon, den eine schwere, herabgelassene Portiere von dem erwähnten Raume trennte. Er schlug den Vorhang zurück und trat in das allerdings kleine, aber reizend eingerichtete Atelier mit seinen die Ecken füllenden Palmen, seinen alten Stoffen, Gefäßen und Möbeln – alles Saschas Eigentum, das Madame Chrysopras als »Gerümpel« bezeichnete, den Fürsten aber gleich wohltuend anmutete und ihm die Nichte sofort näherbrachte.
Vor einer Staffelei stand eine kleine Gruppe von fünf Personen: Boris und Sascha Chrysopras, ferner ein großer Herr mit sehr dunkler Gesichtsfarbe, schwarzem Haar, schwarzem Schnurrbart und merkwürdigen hellen, dunkelverschleierten Augen – Augen, die weder zu übersehen noch auch zu vergessen waren. Zwei junge Mädchen in einfachen, weißen Kleidern von weichem Wollstoff vervollständigten die Gruppe und erfüllten das nur matt erleuchtete Atelier wie mit einem Sonnenzauber. Sie waren beide fast gleich groß, kaum Mittelhöhe erreichend, beide gleich schlank, beide blond, beide von zarter, aber reizender Schönheit. Sie sahen einander auch ähnlich durch Familienähnlichkeit, aber hier trat der Unterschied zwischen beiden hervor. Die größere mit dem goldblonden Haare hatte schärfere Züge, der Mund war fester geschlossen durch einen eigentümlich reizvollen Zug von Energie, die nur etwas dunkler als das Haar getönten Brauen und Wimpern umrahmten große und schöne, aber etwas kalt blickende graue Augen, die wohl sehr weich, aber wohl auch sehr hart blicken konnten. Die kleinere hatte flachsfarbenes Haar, fast weiß, so licht war's, und duftig und fein dazu wie gesponnenes Silber, nur mit jenem Hauch von Farbe darüber wie Mondlicht im Mai. Fast ganz dunkel waren dazu ihre Brauen und Wimpern, so dunkel, daß die Leute sie schwarz nannten, und ihre großen, lachenden Kinderaugen waren so veilchenblau, daß sie im Schatten auch schwarz erschienen. Der süße Mund war hier nicht herb wie bei der anderen, sondern weich und von unbeschreiblichem Liebreiz, den die Grübchen in den rosigen Wangen nur noch erhöhten.
»Kinder, Fürst Hochwald wünscht euch vorgestellt zu werden«, sagte Graf Erlenstein im Eintreten. »Lieber Fürst – meine Töchter Sigrid und Iris!«
Die jungen Gräfinnen reichten dem Fürsten mit unbefangener Freundlichkeit die Hand – Boris begrüßte ihn lebhaft, Sascha herzlich, aber ruhig. Der noch anwesende Herr stellte sich selbst vor als Cavaliere Spini.
»Onkel, was sagst du? Ist sie nicht entzückend?« – tuschelte der in einem unglaublich modernen Frack mit noch unglaublicher hohem Hemdkragen steckende Boris hinter seinem »Claque« dem Fürsten voll Ungeduld zu.
Der Fürst antwortete nur durch ein Lächeln – er streifte Gräfin Sigrid eben nur mit dem Blick, während er das Auge kaum von ihrer Schwester wenden konnte. Ja, er kannte sie, diese wunderschönen Erlensteinschen, veilchenblauen Augen – der Graf selbst besaß solche, und eine, die lang schon tot war, eine andere Erlenstein hatte sie auch besessen – – –! Nur die liebreizenden Züge waren nicht Erlensteinsches Erbgut, sie dünkten ihm bekannt und doch fremd zugleich. Ihm war, als hätte er dies Antlitz schon einmal gesehen, nur anders umgeben, aber wann und wo?
Sie ähnelt wohl ihrer Mutter, dachte er.
»Es ist sehr nett von dir, Onkel, daß du uns in meinem buen retiro aufgesucht hast«, sagte Sascha. »Eigentlich ist's ja wohl unhöflich, daß wir unsere Gäste ja schnöde verlassen haben, aber der Cavaliere wollte gern sehen, wie mein Bild von Sigrid und Iris geraten ist. Ich habe es heut vollendet!«
Und damit deutete sie auf die Staffelei, wo in einem geschnitzten und vergoldeten Florentiner Rahmen ein Pastellbild stand: – – auf dem Hintergrunde einer dunkel-moosgrünen Samtportiere die blonden Köpfe der Erlensteinschen Zwillinge aneinandergelehnt.
»O Sascha, nach dem, was deine Mutter über deine Kunst gesagt, hatte ich recht mäßiges Dilettantenwerk erwartet und finde nun, daß du eine Künstlerin bist!« rief der Fürst freudig überrascht.
»Ich weiß, daß ich Talent habe, Onkel«, erwiderte Sascha ruhig. »Das ist die Entschädigung, die mir der Himmel für mein garstiges Gesicht gegeben«, setzte sie lächelnd und ohne Bitterkeit hinzu.
Fürst Hochwald drückte der häßlichen Nichte warm die Hand. »Du hast das bessere Teil erhalten«, sagte er herzlich.
»Das denke ich auch, nun ich's gefunden habe«, nickte sie freundlich.
»Die Signorina hat in der Tat hier ein Kunstwerk geschaffen«, fiel der Cavaliere mit tiefem, vibrierendem Organ ein. »Nicht in der Technik und in der Ähnlichkeit allein, sondern vor allem in der Charakteristik der beiden Köpfe, die sie so fein individualisiert hat. Es ist zu beklagen, daß die Signorina trotz alledem nur in den Reihen der Amateure bleiben soll.«
»Wer sagt Ihnen das, Cavaliere?« fragte Sascha ruhig. »Halten Sie mich für so töricht, das mir verliehene Talent nur darum zersplittern und vertändeln zu wollen, weil ich zufällig zur Aristokratie gehöre und weil doch jetzt alle Welt Pastell malt?«
»O Sascha, was würde Mama sagen, wenn sie dich hörte!« murmelte Boris hilflos.
»Oh, sie würde und wird auch Lärm machen«, war die phlegmatische Erwiderung. »Aber ich habe ja gute Nerven und weiß auch, daß ich dem Sturm nicht allein trotzen werde. Nicht wahr, Onkel Marcell? Ah, das wußte ich, als ich dich heut früh sah! Nun, der Hochwaldsche Eisenkopf und das zähe Strebertum Chrysopras' in mir vereint, müßten sich eigentlich doch den Weg durch eine chinesische Mauer bahnen!« schloß sie lächelnd, indem sie Spini ansah.
»Nun sag mir bloß, Papa, was würdest du tun, wenn Sigrid oder ich irgendein großes, ungewöhnliches Talent hätten?« rief Gräfin Iris lebhaft. »Ich meine natürlich solch ein Talent, das wie bei Sascha empordrängt ans Licht!«
»Zeigt mir solch ein Talent, Kinder, und die Antwort will ich euch nicht schuldig bleiben!« erwiderte Graf Erlenstein mit einem glücklichen Blick auf seine beiden Blondköpfe. »Ich muß freilich bekennen«,