»Ich ziehe mich jetzt zurück,« verständigte sie Fräulein Eckhardt, »ich erwarte Sie in einer Stunde in meinem Zimmer. Olga, bitte deinen Arm.«
»Was tun wir mit Ihrer freien Stunde?« fragte Carola, indem sie Rose anblickte. Sie machte verschiedene Vorschläge, und endlich kam man überein, Professor Körner in seine Werkstatt zu begleiten. Van der Lohe nahm ebenfalls den Hut und folgte den vorausschreitenden Damen an der Seite des Bildhauers. Baron Hahn allein blieb zurück und wußte Sonnenberg zu einer Partie Billard zu bereden. Herr Leßwitz meinte zwar üben zu müssen, entschied sich aber doch mitzugehen.
Man ging also über den Rasenplatz mit dem Springbrunnen, bog aber an der nach dem See führenden Allee ab und befand sich, einen schmalen Laubengang verfolgend, an einem in arabischem Geschmack aufgeführten hölzernen Gebäude. Professor Körner schloß die Tür auf, und die kleine Gesellschaft betrat ein geräumiges Gemach, dessen Fenster wie die mit Oberlicht versehene Kuppel mit dichten Vorhängen verhüllt waren, um durch sie das hereinfallende Licht zu regulieren. Der Professor verschwand im Nebenraum, kam bald im weißen Arbeitskittel wieder und trat an das hölzerne Gerüst in der Mitte der Werkstatt, auf dem sich eine anscheinend formlose Masse, bedeckt durch ein großes, dunkles Tuch, befand. Er schlug dies zurück und enthüllte dadurch den halbfertigen Tonentwurf einer Büste – schon unverkennbar die von Frau van der Lohe – und einen lebensgroßen, ebenfalls halbvollendeten Amor, der, auf einem Baumstamm sitzend, seinen Bogen spannte und dabei, als hätte er schon sein Opfer bereit, schalkhaft seitwärts blickte.
»Sehen Sie, Fee Goldhaar, dieser Cupido wird von unserem Professor zum Schmuck unseres Saales geschaffen,« erklärte Carola, »und außerdem sitzt ihm Tante Clementine zu ihrer Büste. Wird sie nicht prächtig? Sehen Sie nur, wie scharf sich ihr schönes Profil abhebt! Professor, diese Büste wird ein Meisterwerk!«
»Nun, ich hoffe, daß sie leidlich wird,« entgegnete der Professor freundlich, indem er sein Werkzeug zurecht legte. »Ich habe noch kein Werk von Ihnen gesehen,« sagte Rose, »aber mir scheint, nach diesem reizenden kleinen Schelm zu urteilen, daß Ihre Muse zur heiteren Seite neigt.«
»Nicht immer, Fräulein Eckhardt,« entgegnete der Bildhauer, »aber man hat eben heitere Augenblicke. Das Leben und der dornige Weg, den der Künstler zur Höhe klimmen muß, lassen ihm nicht viel Zeit für den Scherz. Aber was wissen Sie von den Kämpfen eines Künstlers, was wissen Sie von der Welt überhaupt, Sie mit Ihren sonnigen, hellen Augen!«
»Sie sind jetzt ›auf der Höhe‹?« fragte Rose naiv, indem sie den Bildhauer ansah und seine ernsten Züge musterte.
»O ja,« sagte er leichthin, »aber auch die Höhe ist nicht immer sonnig, Wetterleuchten zuckt um sie her, und der Hauch des Neides umweht sie; ein Wunder ist's nicht, wenn man sich seine eigenen Schöpfungen zum Muster nimmt und wie diese wird: kalt und – steinern.«
»Sie aber sind es nicht geworden,« sagte Rose warm.
»Haben Sie das schon heraus?« fragte der Bildhauer lächelnd. »Ich habe eben mehr Widerstandskraft als andere – daran liegt's. Der Weg, den der Künstler emporklimmen muß, Stufe für Stufe, ist so unendlich mühevoll, daß viele, ja die meisten, auf ihm zusammenbrechen, wenn sie nicht so weise sind umzukehren.«
»Aber wenn er erst ›oben‹ ist auf der Höhe, dann hat er das schöne Bewußtsein: Was ich bin, wurde ich aus eigener Kraft,« rief Rose mit leuchtenden Augen, »ich meine, das ist doch tausendmal besser, als durch ›Beziehungen‹ sich bequem emporschieben zu lassen. Ich mag die Leute nicht leiden, die sich immer und immer an andere anklammern müssen,« setzte sie mit glühenden Wangen hinzu.
»Es ist damit eine eigene Sache,« sagte van der Lohe. »Es gibt Leute, die geschoben werden müssen, um etwas zu erreichen.«
»Was hat das Erreichte dann für einen Wert?« rief Rose lebhaft. »Mein Vater sagte immer zu mir: Du sollst unter meiner Hand ein kräftiger und doch biegsamer Stamm werden, wie die Tannen, die selbst der Sturm nicht bricht, aber du sollst nicht zur Efeuranke heranwachsen, die ein Nichts ist ohne einen Stamm oder gar ein bröckelndes Gestein, an das sie sich anklammern muß.«
»Ihr Vater war ein weiser Mann, Fräulein Eckhardt!« rief Professor Körner. »Vor kurzem las ich eine mit diesen Grundsätzen verwandte Äußerung eines geistreichen Dichters, die ungefähr lautet: ›Bevor der Knabe hinausgeworfen wird ins Meer des Lebens, lehrt man ihn sorgfältig schwimmen; das Mädchen schwimmen zu lehren, fällt selten jemand ein, es wäre ja unweiblich und emanzipiert. Aber auch das Mädchen wird hinausgeschleudert in die brandenden Wogen des Lebens, ohne zu wissen, wie sie gegen diese kämpfen soll – geht sie unter, dann wird noch obendrein der Stab über sie gebrochen.‹ Das ist die Folge jener Efeuranken-Erziehung. Ja, was sind wir doch für kluge Menschen.«
Van der Lohe hatte sich, während der Professor sprach, eine Zigarre angezündet, und indem er den Rauch vor sich hin blies, sah er Rose aufmerksam an, und sagte dann bedächtig: »Ihr Gewährsmann, Körner, und Fräulein Eckhardts Vater mögen beide recht haben, aber es ist doch etwas ungemein Anziehendes und Reizvolles um das alte Gleichnis von Eiche und Efeuranke. Glauben Sie nicht, Fräulein Eckhardt, daß einmal doch die Stunde kommt, oder besser, daß die Stunde kommen kann, in der die stolze, geträumte, anerzogene Sicherheit wankt, und man sich ganz von selbst an einen stärkeren Stamm flüchtet, um Schutz zu suchen?«
»O gewiß,« antwortete Rose schnell, »glücklich ist, wer dann einen solchen Stamm findet! Wir reden ja aber nur von jenen, die niemand auf der weiten Welt haben, als nur eben sich selbst.«
Sie wandte sich jäh ab und trat vor ein Gipsrelief, es betrachtend, denn im Grunde war sie gekränkt, in ihrem Stolz verletzt durch van der Lohe. Warum, nachdem er gestern abend mit ihr geplaudert, hatte er sie heute verleugnet? Warum tat er, als hätte er sie vorher nie gesehen?
Indes plauderten die anderen weiter.
»Warum so nachdenklich, Fräulein Carola?« fragte Herr Leßwitz.
»Das wollte ich Sie eben fragen,« gab sie zurück.
»Mich? Bei mir ist das kein Wunder. Ich komponierte in Gedanken.«
»Wirklich? Vielleicht die Melodie zu dem Liede Hiddigeigeis:
Eigner Sang erfreut den Biedern,
Denn die Kunst ging längst ins Breite?«
»Leider tat sie's, leider! Wehe auf die Häupter derer, die sie herunterbrachten, die göttliche Musik,« erregte sich Herr Leßwitz, indem er seine wirre Pianistenmähne drohend schüttelte.
»Selig sind die Verblendeten, vulgo Beschränkten, denn sie verstehen keine Bosheiten,« murmelte Carola lustig und raunte Rose zu: »Ihn erfreut nämlich wirklich nur der ›eigene Sang', das heißt er bekommt Krämpfe, wenn ein anderer oder eine andere sich unterfängt, Musik zu machen. ›Es gibt keine fremden Götter neben mir,‹ ist sein stolzer Wahlspruch. Es geht eben nichts über die schöne Selbstschätzung.«
»Sagten Sie etwas, Fräulein Carola?« fragte der neue Liszt mißtrauisch.
»Allerdings,« rief Carola lachend und setzte hinzu: »Aber ich muß jetzt ins Haus – Briefe schreiben. Schönen guten Morgen allerseits.«
Damit wollte sie zur Tür hinaus, doch Leßwitz rief: »Dann nehmen Sie mich mit, Fräulein Übermut. Drinnen harrt meiner die Partitur zur ›Walküre‹ und eine Lisztsche Transkription – also mächtige Magneten für mich.«
»So kommen Sie! Ach, wie herrlich hörte ich einst die Rigoletto-Paraphrase spielen!« seufzte Carola, während der Schalk ihr aus den Angen sprühte.
»Liebes Fräulein,« sagte Leßwitz geringschätzig, »alle Achtung vor Ihrem Geschmack, aber – die Rigoletto-Paraphrase müssen Sie von mir spielen hören.«
Carola warf einen triumphierenden Blick um sich und verließ dann, gefolgt von Leßwitz, die Werkstatt. Als sie außer Gehörweite waren, brach Professor Körner in lautes Lachen aus.
»Heilige Einfalt,«