Nachdem Frau Peters noch nach etwaigen Wünschen gefragt hatte, ging sie. Das junge Mädchen legte Hut und Mantel ab und setzte sich in Erwartung ihres Gepäcks ans offene Fenster. Drunten blühten schon die ersten Rosen, der süße Duft eines Heliotropbeetes zog zu ihr herauf, im Lindenbaum sangen die Vögel, und eine traumhafte Ruhe lag über der Landschaft.
Sicher, allein gelassen zu werden, löste sie die schweren Flechten und ließ ihr prächtiges Haar lang und in schweren Wellen über den Nacken fließen; sie hätte den Kopf am liebsten unter die sprühenden Wasserstrahlen gehalten, die drunten im Garten, von einem steinernen Oberon aus einem vergoldeten Horn geblasen, zu mächtiger Höhe emporsprangen und leise plätschernd in das muschelförmige Becken zurückfielen. Aber da das nicht gut anging, so begnügte sie sich damit, an das Fensterkreuz gelehnt, ins Grüne zu blicken, und dabei wurde es ihr immer friedlicher im Sinn und immer wohler zumut – das machte die Linde vor ihrem Fenster, denn eine solche hatte sie daheim auch gehabt, das Rauschen der Blätter klang ihr so lieb und vertraut. Hätte sie zwischen engen, düsteren Stadtmauern sitzen müssen, umtobt von dem rasselnden Lärm der Straßen, das Herz wäre ihr vor Heimweh und Trauer noch schwerer geworden, und dankbar dacht sie, daß das Schicksal es trotz allem doch mit ihr gut gemeint.
»Lorelei!« sagte plötzlich eine freundliche Stimme neben ihr. Sie fuhr zurück und stand einer noch jungen Dame gegenüber, deren Gestalt völlig verwachsen und sehr klein war. Ihr Gesicht war lang, schmal und blaß, mit blitzenden, dunklen Augen, während um ihren schmalen Mund ein halb spöttisches, halb gewinnendes Lächeln zuckte.
»Ich habe dreimal geklopft, aber Sie hörten mich nicht,« sagte die kleine Dame, »ein Pfennig für Ihre Gedanken! Na, da trat ich denn einfach ein und bin ganz versteinert über die goldige Pracht auf Ihrem Kopfe, ich glaubte gar nicht, daß es noch solches Loreleihaar in der Welt gäbe! Sie werden unsern Professor damit bis zur Verzückung begeistern! – Sie wollen heute nicht mehr herunterkommen? Frau Peters sagte, Sie wären sehr ermüdet!«
»Etwas bin ich's schon,« stammelte Rose, überrascht durch die ungezwungene Art und Weise der Unbekannten, »die Reise hat mir Kopfschmerz gemacht, und deshalb löste ich auch das Haar!«
»Sie sollen es nie anders tragen,« rief die Kleine.
»Ich glaube aber nicht, daß es passend ist, in meiner Stellung so herumzulaufen,« erwiderte Rose lachend.
»Ihre erste Pflicht ist, unsere Augen zu erfreuen, und zwar vom künstlerischen Standpunkt aus.«
»Diese Auslegung meiner Pflichten als Gesellschafterin ist mir freilich noch nicht eingefallen,« erwiderte Rose belustigt.
»Sehen Sie wohl?« triumphierte die Kleine, »nun ja, ich sagte es ja immer, daß die Mehrzahl der Menschen ihre Stellungen und Pflichten verkennt! Meine Tante ist eine begeisterte Prophetin der Schönheit und treibt Ästhetik, sie wäre über den Anblick einer garstigen Gesellschafterin in Ohnmacht gefallen. Aber über all dem habe ich mich Ihnen ja noch gar nicht vorgestellt! Sie werden einen sonderbaren Begriff von den Einwohnern dieses Hauses bekommen, wenn sie, wie ich, ohne weiteres bei Ihnen eintreten und schwatzen. Ich heiße Carola van der Lohe.«
In diesem Augenblick trat ein Stubenmädchen mit dem Teebrett ein, stellte es auf den Tisch vor dem Sofa und ordnete zierlich das kalte Abendbrot auf der weißen Damastdecke. Fräulein van der Lohe musterte prüfend den Inhalt der Schüsseln und sagte dann, zu Rose gewendet:
»Darf ich mich an Ihrem Abendbrot beteiligen? Vorausgesetzt natürlich, daß Sie nicht zu müde sind.«
Rose beeilte sich zu versichern, daß sie sich bereits wesentlich besser fühle, und bald saßen sich die beiden Mädchen gegenüber, und das Klappern der Bestecke deutete an, daß sie den Speisen alle Ehre erwiesen.
»Ist Ihnen irgend jemand hier im Hause bekannt?« fragte Carola.
»Nein, niemand.«
»Und Sie kennen nicht einmal unsere Familie?«
»Nein, ich weiß nur, daß eine Frau van der Lohe mich als Gesellschafterin verpflichtet hat.«
»Na, dann ist es ja Ehrenpflicht, Sie mit den gegenwärtigen Bewohnern von Eichberg bekannt zu machen! Lassen Sie mich die Tasse Tee austrinken, dann will ich Sie gern belehren.«
Es entstand eine kleine Pause, während welcher Rose ihr Gegenüber betrachtete und zu dem Ergebnis kam, daß Fräulein van der Lohe sicher von Herzen gutmütig sei, trotzdem ihre schwarzen Augen vor Spottlust funkelten. Carola betrachtete ihrerseits Rose ebenso verstohlen, aber die junge Dame hatte die Welt gesehen und schloß nicht so hastig ihr Urteil ab wie das unbefangene »Heideröslein«. Trotzdem gefiel ihr die »neue Gesellschafterin«, schon wegen ihres prachtvollen Haares, und sich nach beendeter Mahlzeit bequem in ihren Sessel zurücklehnend, begann sie:
»Fräulein Eckhardt, Sie sind wenig oder gar nicht unter die Menschen gekommen, denke ich, und deshalb leicht geneigt, alles für gut und schön anzusehen, was Ihnen in den Weg läuft. Deshalb möchte ich Ihnen eine kleine Skizze von den Bewohnern dieses Hauses entwerfen, damit Sie ein wenig Bescheid wissen – Sie brauchen darum noch kein Wort davon zu glauben. Aber ich meine es gut, wirklich gut, trotz meiner Spottlust und dem Höcker auf dem Rücken, den die Welt so gern zum Sitz der Bosheit macht – reden Sie nichts dagegen, Sie sehen mir danach aus, als ob Sie der buckligen Carola doch gut werden könnten! – Ja, was wollte ich doch gleich sagen –? Richtig, ich weiß es! Also über die Lohes im allgemeinen werden Sie doch schon gehört haben? Nicht? Nun also, die Familie stammt aus Holland, ist aber seit mehr als dreihundert Jahren in St. angesessen und hat nach und nach große Ländereien erworben. Die Eisenwerke, die größten in Europa, sagt man, sind gegenwärtig im Besitz meines Vetters, Johann van der Lohe. Er ist dreißig Jahre alt, von ernstem, etwas verschlossenem Charakter, übrigens ein hübscher Kerl, groß und stark, und führt bei seinen Verwandten und Freunden den Spitznamen ›Lohengrin‹, als Umschreibung unseres Namens sowohl, als auch, weil er blond ist und einen ganz netten Gralsritter abgeben würde. Ich rate Ihnen aber nicht, sich in ihn zu verlieben, Fräulein Eckhardt, denn sein Herz ist ganz unempfänglich. Er ist bis jetzt achtlos, mit verletzender Nichtachtung sogar, an den schönsten Mädchen vorübergegangen, ohne auf den guten Willen aller, die ihn in die süßen Rosenfesseln der Ehe schlagen wollen, einzugehen. Sonst ist er ein tüchtiger Geschäftsmann, die Beamten und Arbeiter seiner Werke verehren ihn gebührend, obgleich oder weil er unerbittlich streng ist.
Seine Mutter ist nun eben jene Frau van der Lohe, die Sie hier unterhalten sollen. Seit fünf Jahren Witwe, verlebt sie die meiste Zeit im Jahre hier, nur im Winter sucht sie die hohen Kreise in St. auf, in denen sie eine nicht kleine Rolle spielt, denn sie ist eine geborene Reichsgräfin von und zum Stahleck. Daß sie zu den van der Lohes herabgestiegen ist, kann sie heute noch nicht vergessen, obgleich die Ehre für unsere Familie wirklich nicht so groß war, denn mein verstorbener Onkel riß die Stahlecks aus der größten Not, indem er meine Tante heiratete. Wodurch die Stahlecks verarmten, wird Ihnen Tante Clementine sicher mal erzählen – ich habe die Geschichte längst vergessen. Nun gut; nachdem also die Komtesse Stahleck der alten Patrizierfamilie der van der Lohes, aus der übrigens viele Gelehrte, hohe Offiziere und Staatsmänner hervorgegangen sind, einen ganz besonderen Glanz verliehen hatte und mein guter einfacher Onkel gestorben war, bildete sie sich einen Musenhof, das heißt sie versammelt Künstler, Gelehrte und so weiter um sich und ist vor lauter Ästhetik beinahe schon gar nicht mehr auf Erden.
Diese zwei Personen sind also die Herren des Hauses, nun will ich Ihnen die Gäste schildern. Da bin ich als Verwandte, und dann Olga von Willmer, geborene Gräfin Stahleck, als Nichte meiner Tante. Sie kennen sie ja, ihr schönes Madonnenantlitz begeistert alle Kenner. Natürlich ist auch ihr Wesen sanft, anschmiegend und hingebend, aber stille Wasser sind tief. Ich habe diese Engelssanftmut schon manchmal bedenklich erschüttert gefunden. Tiefer in ihren Charakter einzudringen ist nicht möglich – sie entschlüpft einem, man weiß nicht wie.
Außer uns beiden befinden sich noch vier Herren als Gäste im Hause. Da ist erstens Herr Richard Leßwitz; er ist Pianist aus der Weimarschen