»Ihre Empfehlung genügt, Fräulein Eckhardt,« sagte Olga nach einer Pause, »Sie gestatten, daß ich sie meiner Tante zusende, von der Sie selbst Antwort erhalten werden. Wohl nach Hohlfelden?«
Rose sagte zu und befand sich nach wenigen Minuten auf der Straße. Sie zweifelte kaum, daß Frau van der Lohe sie annehmen würde, aber dennoch schlich plötzlich in ihr junges Herz ein leises, unnennbares Bangen vor der weiten, großen, fremden Welt, in die sie mit einemmal gedrängt wurde, doch dieses natürliche Gefühl konnte ihren festen Entschluß und ihren Mut nicht erschüttern.
Während sie zurück nach Hochfelden fuhr, schrieb Frau von Willmer folgende Zeilen an ihre Tante:
»Nachdem ich die seltsamsten Gestalten, die sich um die Stelle einer Gesellschafterin bei Dir beworben haben, abgewiesen hatte, meldete sich heute ein junges Mädchen, dessen Zeugnis ich Dir mitsende. Die Kleine scheint mir ganz annehmbar, ihre Aussprache der fremden Sprachen ist gut. Willst Du wissen, wie sie aussieht? Ich glaube, sie ist eher klein als groß, hat rötlichblondes Haar und dunkle Augen. Ich kann wirklich nicht sagen, ob sie hübsch oder häßlich ist, sie war sichtlich befangen, und das beeinträchtigt immer etwas. Die Stimme dieses Fräuleins Eckhardt ist sanft, klar und musikalisch. Wenn Du befiehlst, bringe ich sie gleich mit, wenn ich nach Eichberg komme.
Wen treffe ich dieses Mal bei Euch? Ich vermute den unvermeidlichen Leßwitz! Ist die kleine Carola auch bei Dir? Ich habe sie recht gern, obgleich sie sehr vorlaut sein kann. Liebste Tante, ich wollte, Du wüßtest, wie sehr mein Herz mich nach Eichberg zieht! Es ist nicht das prächtige Landhaus, nicht die landschaftlich so schöne Umgebung – es ist ein unnennbares Etwas! Grüße die kleine Carola und meinetwegen auch Herrn Leßwitz, von Herzen grüße mir aber Vetter Jo! Ich küsse Dir die Hand, teure Tante, und bin stets Deine Dich herzlich liebende und verehrende Nichte
Olga von Willmer.«
Mondbeglänzte Zaubernacht,
Die den Sinn gefangen hält.
Tieck
An einem schönen, sonnenhellen Maitage sagte Rose von Fels der Heimat Lebewohl, und schwer genug wurde ihr das Scheiden! Ehe der Hochfeldensche Wagen sie zur Eisenbahn brachte, durchschritt sie noch einmal den geliebten Wald in seiner frischen, neuen Blätterpracht und nahm Abschied, trocknen, brennenden Auges, und tapfer biß sie die Zähne zusammen, um den hervorbrechenden Tränen zu wehren. Doch als sie zu der uralten Eiche kam, unter deren Schatten sie so oft mit ihrem Vater gesessen und hinein ins blühende, grünende Land geschaut, da warf sie sich nieder ins Moos und weinte leise vor sich hin.
Allgemach versiegte die Flut dieser Tränen, die ihr das schwere Herz erleichtert hatten, und als drunten im Dorf die Kirchturmuhr die Stunde schlug, die ihre letzte in der alten Heimat war, da sprang sie entschlossen auf, strich sich das wirre Haar aus der Stirn und vertilgte die verräterischen Spuren in ihren Augen – dann lief sie schnell hinab nach Hochfelden. Vom Forsthaus hatte sie schon gestern Abschied nehmen müssen, denn der Nachfolger ihres Vaters war eingezogen und hatte Besitz ergriffen von den lieben, alten, vertrauten Räumen.
Unten angelangt, wartete schon der Vormund auf sie, wortlos nahm sie Abschied von Frau von Hochfelden, die, so ungern sie Rose vermißte, schließlich doch nicht anders konnte, als den Entschluß des jungen Mädchens zu billigen. Die Schule des Lebens muß durchgemacht werden, sie allein macht den Menschen brauchbar, und Rose zwingen zu wollen, in Hochfelden ein Leben des Müßigganges zu führen, dazu waren Hochfeldens zu einsichtsvoll. Es wäre vielleicht nicht schwer gewesen, Rose eine Stiftsstelle zu verschaffen, allein Frau von Hochfelden hatte vor ihrer Verheiratung eine solche besessen und schlug heute noch drei Kreuze, wenn sie der Tage gedachte, die sie in der Gesellschaft eines Viertelhunderts zänkischer, neidischer und launenhafter Damen verlebt hatte – ein Martyrium, umgeben von Wohlstand und Glanz, schlimmer als das harte Brot, das die ärmste Lehrerin brechen muß.
Darum ließ das treffliche Paar seine Schutzbefohlene ziehen. Sie hatte eine ausgezeichnete Erziehung und gründlichen Unterricht genossen, ihr Charakter hatte sich entwickelt unter der liebevollen, aber auch strengen Leitung ihres Vaters; sie war also tausendmal besser daran trotz ihrer Armut als viele andere Töchter gebildeter Familien, die, wenn sie sich plötzlich allein stehen sehen, nicht wissen, was sie beginnen sollen und mit ihrer »Höheren Töchterschulen-Bildung« knapp die Prüfung einer Kindergärtnerin bestehen können.
Über Roses Augen legte sich aber doch ein leichter Flor, als der letzte Streifen des geliebten Waldes ihrem Blick entschwand. Sie zog den schwarzen Schleier über ihr blasses Gesicht und kämpfte mutig das bange Gefühl der Verlassenheit nieder, das sich, je weiter sie der Zug trug, um so mehr ihrer bemächtigte.
Nach ein paar Stunden war der Bahnhof Eichberg erreicht, sie war am Ziel, denn vor einigen Tagen hatte sie einen Brief erhalten, der auf feinem, glatten Papier die wenigen Worte enthielt:
»Fräulein Rose Eckhardt wird ersucht, sich am 20. Mai um 7 Uhr abends auf der Haltestelle Eichberg einzufinden, wo ein Wagen sie erwarten wird.
Clementine van der Lohe
geb. Reichsgräfin von und zum Stahleck.«
Rose stieg aus und sah sich um, aber schon trat ein Diener an sie heran und fragte, den Hut lüftend:
»Fräulein Eckhardt?«
Sie nickte; der Diener nahm ihr Handtasche und Reisedecke ab und führte sie zu einem halbgedeckten Wagen, der sofort mit ihr davonfuhr. Mit erwachendem Interesse betrachtete sie die Gegend um sich. Es war hügeliges, reiches und fruchtbares Land mit rebenbepflanzten Anhöhen, durch das sich das breite Silberband des Flusses wand. Rechts ab vom Wege sah Rose gewaltige Fabrikgebäude liegen, deren Essen dampften, und ehe sie noch fragen konnte, teilte ihr der Diener auf dem Kutscherbock nicht ohne einen gewissen Stolz mit, daß dies die van der Loheschen Eisenwerke seien.
Nach kurzer Fahrt bog der Wagen in eine lange, prächtige Kastanienallee ein und hielt dann vor dem Portal eines großen, in italienischem Stil erbauten Landhauses.
Eine ältliche, in Schwarz gekleidete Frau kam die Treppe der Vorhalle herab und half Rose beim Aussteigen.
»Ich bin die Wirtschafterin, Fräulein Eckhardt,« sagte sie, »die gnädige Frau hat mich beauftragt, Sie zu empfangen und auf Ihr Zimmer zu führen.«
Rose folgte ihr durch lange Flure und über teppichbelegte Treppen in den zweiten Stock, wo Frau Peters eine Tür öffnete und Rose in ein geräumiges, freundliches Zimmer mit grüner Tapete führte, dessen hübsche Möbel, mit blauem, blumenbestreutem Stoff überzogen, den Raum recht wohnlich machten. Eine tiefe Nische, die mit dichten Vorhängen von dem Zimmer geschieden war, diente als Schlafstube. Frau Peters zog die Rolladen auf, und Rose trat an das offene Fenster.
»Wie schön,« rief sie unwillkürlich und betrachtete entzückt die prächtige Aussicht, die sich ihr bot. Dicht hinter dem Fenster lag der parkähnliche Garten mit reichen Anlagen, eine hohe Linde stand unter dem Fenster, und im Hintergrunde schimmerte zwischen mächtigen Baumgruppen der leichtbewegte Spiegel eines Sees, den in der Ferne ein Wald begrenzte.
»Ja, die Aussicht ist hübsch,« sagte Frau Peters beistimmend, »Herr van der Lohe wohnt auch auf dieser Seite des Hauses. Die gnädige Frau zieht die Abendseite vor, denn sie mag die viele Sonne nicht leiden, und dann stört sie das Flimmern des Sees – es tut ihren Augen weh.«
»Oh, – leidet sie an den Angen?« fragte Rose teilnehmend.
»Das nicht, aber die gnädige Frau hat oft Kopfweh,« erklärte Frau Peters und fügte hinzu: »Wünschen Sie den Tee hier zu nehmen, Fräulein Eckhardt? Frau van der Lohe läßt Ihnen sagen, wenn Sie von der Reise angegriffen seien, so möchten Sie heute nur ruhen.«
»In der Tat,« sagte Rose zögernd, »mein Kopf schmerzt etwas, wenn aber Frau van der Lohe wünschen sollte, daß ich mich ihr heute noch vorstelle, so werde ich gewiß –«
»Nein, nein, Fräulein Eckhardt,« wandte Frau Peters ein, »Sie müssen ausruhen. Wenn man Kopfweh hat,