Leonie verhakte ihr Gewehr mit der integrierten Auflage in den Platten der Terrasse und presste ihre Schulter dagegen. Emilia legte sich neben ihre Mutter und machte große Augen als sie einen Blick durch das Zielfernrohr warf. Das war ein deutlich besseres als sie auf ihrem Luftgewehr montiert hatte. Aber Leonies Gewehr war auch auf weitere Entfernungen ausgelegt. Diese Strecken würde Emilias Luftgewehr niemals erreichen. Die Tochter von Micha und Leonie durfte eine einzelne Patrone einlegen und dann auf ein beliebiges Ziel anvisieren. Leonie zwang sich nicht zu überprüfen wie ihre kleine Tochter anlegte. Sie ließ sich überraschen. Emilia dirigierte das Fadenkreuz auf die Position, die sie treffen wollte und drückte dann den Abzug durch. Das Projektil durchschlug das anvisierte Ziel und Emilia warf die kleinen Arme in die Luft. Das war für sie das bis dahin beste Erlebnis ihres jungen Lebens.
In Zukunft durfte sie mit ihrem Vater und Dolores trainieren und dann auch öfter mit den Dienstwaffen der beiden schießen. Die beiden Mädchen konnten nicht glücklicher sein. Sie waren auf der ganzen Insel einzigartig. Sie hatten einen Vater, der für die beiden alles Erdenkliche möglich machte und sie vergötterte. Und sie waren die einzigen Kinder, die gleichzeitig zwei Mütter als ihr eigen bezeichnen konnten. Die anderen Kinder aus dem Kindergarten waren etwas neidisch auf die beiden Mädchen. Ihr Elternhaus funktionierte tadellos und immer war jemand für sie da. Während der Ferien durften die beiden auch deutlich länger aufbleiben als ihre Freundinnen aus der täglichen Erziehungsanstalt.
Die anderen wussten nicht, was die Eltern der beiden Mädchen arbeiteten, aber sie waren immer erreichbar. Viele Eltern hatten das Problem, dass sie nicht einfach von der Arbeit zu ihren Kindern eilen konnten. Nur ab und an waren weder die Mütter noch der Vater einige Wochen nicht zu sehen. Stattdessen hatten sie entweder den Vater von Damien dabei oder eine junge Frau, die sich um sie kümmerte. Trotzdem waren sie äußerst beliebt bei ihren Freunden im Kindergarten. Nur die Erzieherinnen hatten ein kleineres Problem mit den beiden Kindern. Wann immer sie etwas besprachen, was die Erwachsenen nicht mithören sollten, wechselten sie in eine andere Sprache, die niemand verstehen konnte. Beide sprachen Englisch, aber auch Deutsch und Spanisch, was die Erzieherinnen immer wieder zur Weißglut brachte.
8. Kapitel
Vereinigte Staaten, Portland (OR)
Der Ort, an dem Vivian Burgess ihr Paket abliefern sollte, lag etwas außerhalb der Stadt in einem Etablissement, das nicht gerade einladend auf die Damenwelt wirkte. Die einschlägigen Läden lockten vorwiegend Männer, die gegen Bezahlung ihren Trieb befriedigen konnten. Frauen betraten diese Lokalitäten eigentlich nicht, wenn sie nicht gerade dort arbeiteten. Vor allem reagierten die dort angestellten Damen ziemlich negativ auf weitere Frauen. Stutenbissigkeit machte sich breit, weil sie sich um ihre Einnahmen Sorgen machten. Die roten Lampen sollten nicht nur anziehend auf die Männerwelt wirken, sondern auch eine flüchtig erotische Stimmung zu erzeugen.
Zudem war auch in Portland, wie in den gesamten USA, Prostitution illegal. Nur in Nevada wurde sie geduldet. Das änderte allerdings nicht daran, dass die örtliche Polizei fast nichts dagegen unternehmen konnte. Diese Etablissements gab es trotzdem an fast jeder Straßenecke außerhalb der Städte. Vivian wollte es nicht wahrhaben in diese Lokalität zu gehen und dort etwas zu hinterlegen. Ihr vorbereitetes Päckchen trug sie im hinteren Hosenbund mit sich. Bevor sie hineinging, überprüfte sie noch einmal sorgfältig, ob sie an alles gedacht hatte. Ihr war ziemlich unwohl als sie auf die Tür zutrat.
In der Luft hing ein widerlicher Geruch nach tausenden Parfüms, deren Melange in ihrer Nase kitzelte und jede Menge Zigarettenrauch. Es war kaum auszuhalten. Vivian wollte so schnell wie möglich wieder aus dem Laden raus, aber sie musste erst noch den Auftrag, den sie von ihrer Freundin Tiana übernommen hatte, zu einem Ende bringen. Aufgrund des Ortes, an dem sie sich befand, wollte sie es sofort hinter sich bringen. Ein Getränk bestellte sie besser nicht, denn das würde bedeuten sie müsste länger hier ausharren als nötig. An der improvisierten Bar, die aus einem einfachen Brett zu bestehen schien, drängten sich viele, fast unbekleidete junge Damen um einige Männer. Diese saßen auf unbequem aussehenden Hockern aus Holz, rauchten wie alte Kamine und betatschten die Damen.
Der ganze Gastraum stand vor Dreck und Abfall. Nicht einmal die Gläser waren ordentlich gespült. Die Herren der Schöpfung fingen sich garantiert keine Krankheiten ein. Sie desinfizierten sich von innen mit dem hochprozentigen Alkohol, der in ihren Gläsern schaukelte. Vivian rümpfte die Nase. Sie wollte hier besser nichts berühren. Die Tür zur Toilette hatte die besten Zeiten schon lange hinter sich. Sie hing schief in ihrem Rahmen und der Lack war schon seit gefühlt hundert Jahren abgeblättert. Die beiden aufgeklebten Nullen hingen nur noch an einigen Kleberesten fest und machten den Eindruck, als würden sie sofort abfallen, wenn man die Tür etwas fester schloss.
Der Raum, den Vivian als Toilette vorfand, erinnerte entfernt an ein schmieriges Kellerloch. Die hellen Fliesen an den Wänden waren übersät mit Schlieren und einem offensichtlichen Fettfilm. Die Toilettenschüsseln wiesen dieselbe Verschmutzung auf, nur unterbrochen durch einige runde helle Stellen. Sie versuchte die Tür abzuschließen, um alleine zu sein. Um nichts zu berühren, nahm sie sich ein graues Papier aus dem Spender, der neben dem dreckigen Waschbecken an der Wand klebte. Vivian faltete das Papier doppelt und zog den Riegel an der Tür vor. Dann begann sie die Fliesen an der Wand abzuzählen. Fünfte Reihe von unten und die 18. Platte von rechts der Tür war als Versteck angegeben.
Nachdem Vivian die Platte ausfindig gemacht hatte, nahm sie sich eine extra eingesteckte Nadelfeile aus