Die Linie des Busses führte immer weiter aus der Innenstadt von Portland hinaus. Die Häuser an der Straße wurden deutlich kleiner und die Menschen weniger. Ihre Zielperson einige Reihen vor ihr schaute verträumt aus dem Fenster. Immer mehr Grün tauchte an der Straße auf und die großen Bürotürme der Innenstadt verschwanden hinter ihnen im Abgasnebel. Auch die Abstände zwischen den Haltestellen wurden immer größer. Vivian warf einen Blick auf den Streckenverlauf, der als Diagramm über ihr hing. Die Anzeige auf dem Monitor im vorderen Teil hinter dem Fahrer zeigte ihr, dass sie nur noch einige Haltestellen bis zur Endstation hatten.
Erst als die vorletzte Haltestelle auf der Route angesagt wurde, machte sich ihre Zielperson bereit auszusteigen. Sie waren in einer ziemlich spärlich besiedelten Vorstadt angekommen. Die kleinen Häuser am Straßenrand waren allesamt in einem eher erbärmlichen Zustand. Die Farbe der Fassaden war verblasst oder hing schon in langen Fetzen an den Behausungen herunter. Vivian konnte sich noch gut an diese Art zu leben erinnern. Auch sie war erst seit ihrer Ausbildung langsam aus so einer Gegend in die Stadt geflüchtet. Ihre Wohnung war zwar auch nicht gerade eine Mansarde in einem angesagten Viertel der Stadt, aber zumindest war sie ruhig und doch zentral gelegen. Sie hatte sogar den Vorteil eine U-Bahn-Station in ihrer Straße zu haben. So brauchte sie bis in die Innenstadt nur einige Minuten.
Als der Bus anhielt und ihre Zielperson mit einem unsicheren Schritt auf den schmutzigen Asphalt das Fahrzeug verließ, schickte sie sich auch an das Vehikel zu verlassen. Der alte Mann beachtete sie nicht, als er sich in die entgegengesetzte Richtung des Busses auf den Weg machte. Vivian blieb einige Sekunden verwirrt an der Bushaltestelle stehen und sah ihm unsicher hinterher. Das konnte beim besten Willen kein Agent des SNB sein. Trotzdem musste sie an ihm dranbleiben. Der Weg sollte nicht umsonst sein und sie wollte zumindest in Erfahrung bringen, wer das war und was er damit zu tun hatte.
Sie folgte ihm noch eine ganze Weile in sicherem Abstand zu einem verwildert aussehenden Haus in einer schrecklich aussehenden Straße. Immer wieder musste der Alte vor ihr eine kurze Pause einlegen, um den Weg zu überstehen. Er war nicht mehr wirklich so fit auf den Beinen und brauchte die Pausen wohl um Luft zu holen. Das Haus, auf das er zusteuerte, war von einem alten verrosteten Zaun umgeben und die Büsche im Vorgarten schienen seit Jahrzehnten nicht mehr zurückgeschnitten worden zu sein. Sie ragten meterhoch vor der beigen Fassade auf, die einmal in Weiß gestrichen wurde. Der alte Mann zog seinen Schlüssel aus der Tasche seines Anzugs und betrat das Haus. Vivian sah ihm von weitem zu. Das Sideboard, was sie im Flur stehen sah, war genauso abgetakelt wie der Anzug, den ihre Zielperson trug.
Vivian entschied sich nach wenigen Minuten ihrer Zielperson zu folgen und lief an seinem Briefkasten vorbei. Ein Name war nicht darauf vermerkt, aber es lagen einige Briefe darin. Vorsichtig sah sie sich um und als niemand zu sehen war griff sie sich einen der Briefe auf dem die Adresse angegeben war. Auf dem Weg zurück zur Bushaltestelle sah sie sich den Namen des Empfängers an. Das Schreiben war an einen Curtis Chase adressiert. Das war also der Name des Agenten, den sie verfolgt hatte. Während sie auf ihre Fahrgelegenheit in die Stadt wartete, nahm sie ihr Mobiltelefon aus der kleinen Handtasche und schrieb eine Nachricht an ihre Freundin Tiana Nielsen, für die sie diesen Auftrag übernahm. Ihre Freundin sollte am Abend den Namen überprüfen und alles herausfinden, was interessant sein könnte.
Die Busfahrt zurück nach Portland machte sich Vivian einige Gedanken zu dem alten Mann, den sie bis in die graue Vorstadt verfolgt hatte. Das konnte definitiv kein Agent des SNB sein, es sei denn er hatte die fast perfekte Tarnung. Die ganze Fahrt über machte sie sich die verschiedensten Gedanken und entwarf in ihrem Kopf ein paar mögliche Szenarien. Trotzdem musste sie davon ausgehen wieder jemanden verfolgt zu haben, der nur einen kleinen Auftrag erledigte. Die erste Verfolgung führte sie auch nur zu Tiana die, wie sie selbst einige Aufträge für das SNB erledigen durfte. An die Organisation war scheinbar kein herankommen.
In der Innenstadt wischte sie die negativen Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf ihren Auftrag. Sie betrat das Verwaltungsgebäude und nahm den Fahrstuhl bis in die 14. Etage. Dort wandte sie sich nach links und folgte dem Gang bis zur Feuertreppe an der Außenseite. Dort war der Kasten des Wasserschlauchs, dessen Verschluss bereits geöffnet war. Noch einmal blickte sie sich um, ob sie niemand beobachtete, aber niemand beachtete die junge Frau. Vivian öffnete den Kasten und sah das in hellblauen Plastik eingeschlagene Paket darin liegen. Sie nahm es in die Hand und ließ es unter ihrer dünnen Jacke verschwinden. Mit dem Oberarm presste sie es unter ihre Achsel und ging zurück zum Aufzug. Erst dort verstaute sie das Päckchen in ihrem hinteren Hosenbund. So verließ sie das Bürogebäude und ging hinüber zu dem Restaurant, in dem sie schon den halben Tag auf der Lauer lag. Dieses Mal nahm sie sich einen Tisch im Innenraum. Den Kellner ließ sie nur ein Erfrischungsgetränk bringen.
Als es vor ihr auf dem Tisch stand, nahm sie einen tiefen Schluck aus dem Glas. Dann stand sie auf und verschwand auf der Toilette. Vivian schloss sich in einer Kabine ein und befreite das Paket. Sie setzte sich auf den Thron und betrachtete das Päckchen in ihrer Hand. Es war nicht besonders groß und wog auch nur einige hundert Gramm. Sie wollte endlich wissen, was sie da transportierten, wenn sie schon nicht herausfinden konnten, wer hinter der Organisation steckte. Mit feuchten Händen zog sie die dicke Plastikfolie auf die Seite. Heraus kam ein weißer Block in der Größe einer Handypackung, der erneut mit einer durchsichtigen Zellophanhülle umhüllt war. Das innere sah aus wie grobes Meersalz, was man zu einem Block zusammengepresst hatte. Sofort schoss ihr ein unangenehmer Gedanke in den Kopf. Sie und ihre Freundin transportierten Drogen für eine angebliche Bundesbehörde durch die Stadt.
Sie konnte dieses Päckchen nicht einfach blindlings abliefern, als ob sie nichts gesehen hätte. Aber würde man sie aus den Augen gelassen haben? Wer immer auch dahintersteckte, musste ein Interesse daran haben, dieses Paket an seinen Bestimmungsort zu bringen und den Kurier wahrscheinlich überwachen. Vivian brauchte auf der Stelle einen Ausweichplan. Sie entschied sich dafür, das Päckchen im Spülkasten des Restaurants zurückzulassen