Temporäre Ausleihen
Während sich die Museumsbehörden in den Debatten über die Mengenbildung gegen die Abgabe von Objekten wehrten, war ihre alltägliche Praxis längst eine andere. Sie liehen nämlich immer wieder einzelne Sammlungsstücke wie auch ganze Bestände an andere Institutionen aus. So überliessen die Museumsbehörden verschiedenen musealen und museumsähnlichen Institutionen Sammlungsstücke als «Depositen». Das hiess, dass ein Stück leihweise für eine längere Zeit einer anderen Institution zur Ausstellung überlassen wurde, jedoch verbunden mit der Möglichkeit, es jederzeit zurückfordern zu können.210 Wie Hans Lehmann 1923 gegenüber dem Bundesrat ausführte, versuchte man dies «ohne grosses Aufsehen zu machen».211 In den Jahresberichten wurden diese Objektbewegungen zwar erwähnt, doch wurden die Berichte laut Lehmann von den Vertretern der Politik wenig beachtet.212 Dass die damalige Ausleihpraxis seitens der Museumsbehörden keine spezielle Erwähnung fand, lässt sich mit der Furcht vor grösseren Besitzverlusten erklären: Wenn sie Objekte für temporär entbehrlich bestimmten, unterwanderten sie ihr Argument, dass die Bedeutsamkeit der Sammlung in ihrer versammelten Grösse liege. Bei jeder Ausleihe betonten sie deshalb, dass man «ausnahmsweise und ohne Präjudiz»213 entschieden habe.214
Die Initiative für Ausleihen ging selten vom Landesmuseum aus. Es waren vielmehr verschiedene Institutionen, die Bittschriften an dieses sendeten und anfragten, ob sie leihweise Objekte für ihre Ausstellungen haben könnten. Oft wurden ihre Anfragen abgelehnt.215 Manchmal wurden bloss einige wenige Gegenstände weggegeben: Die Museumskommission stimmte beispielsweise zu, ein paar Zinngeräte zur Ausschmückung des Büffets im Wirtschaftslokal «Rütlihaus» auszuleihen. Die Rütlikommission der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft hatte dafür ein Gesuch gestellt.216 Manchmal konnten es aber auch mehrere hundert Stücke sein: So wurden an verschiedene Schlösser zahlreiche Halbharnische abgegeben, ohne die vorhandenen Bestände «nennenswert zu vermindern», 217 wie es hiess.218
Auch wenn die Museumsbehörden die Ausleihen als solitäre Aktionen ausgaben, lässt sich doch eine Tendenz in der Objektauswahl feststellen. Mehrheitlich waren es Gegenstände aus den Depots, die anderen Institutionen für ihre Dauerausstellungen ausgeliehen wurden, so zum Beispiel magazinierte Möbel und Waffen aus den ehemaligen Beständen des kantonalen Zeughauses von Zürich.219 Die Behörden des Landesmuseums wollten aber unbedingt die Kontrolle über die ausgeliehenen Sammlungsstücke behalten: Es wurde dafür ein Verzeichnis der Depositen angelegt, die Objekte wurden vor ihrer Abgabe fotografiert, um allfällige Beschädigungen feststellen zu können, und bei den Leihnehmern wurden später vor Ort auch Inventarisationen und Revisionen durchgeführt.220 Was zu vermeiden versucht wurde, waren Ausleihen für temporäre Ausstellungen. Hier war die Furcht vor Beschädigungen an den Objekten durch unsachgemässe Handhabe noch viel grösser als bei den Dauerausstellungen.221 Auch von einer planvollen Wahl der Zielorte versprach man sich eine bessere Kontrolle über die Sammlungsstücke: Sie wurden nicht an Private, sondern nur an öffentlich zugängliche Sammlungen ausgeliehen, wie etwa an die historischen Museen von Basel und St.Gallen sowie an die Schlösser Kyburg und Hegi.222 In diesem Zusammenhang erscheint es als Glücksfall, dass 1912 dem Landesmuseum die Schlossanlage Wildegg im Kanton Aargau geschenkt wurde. Julie von Effinger, die letzte Vertreterin der dort wohnhaften Familie von Effinger, hatte diese Schenkung veranlasst.223 Damit gelangte das Landesmuseum nicht nur in den Besitz seines bisher «umfangreichste[n] Sammlungsobjekt[s]».224 Es erhielt auch zusätzlichen «Stauraum», wenn auch nicht in Zürich. Objekte, die nicht den höchsten Stellenwert in der Sammlung hatten, die man aber doch nicht weggeben wollte, konnten nun in den 35 Wohnräumen des Schlosses ausgestellt werden (Abb. 14). Das waren vor allem Möbel und wiederum Waffen aus den Depositenbeständen des früheren Zeughauses des Kantons Zürich. Das im Schloss noch vorhandene Mobiliar, welches vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert stammte, wurde verkauft, weil es nicht den Sammelpräferenzen der Museumsbehörden entsprach. Aus dem Erlös finanzierte man die Restaurierung des Gebäudes, die zum Ziel hatte, das Schloss in den Zustand der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zurückzuversetzen.225 1915 wurde das Schloss Wildegg als Museum eröffnet (vgl. Abb. 14).226
Abb. 14: Schloss Wildegg Aargau, Erstes Obergeschoss, Salon, 1913, SNM Dig. 28840.
Die Ausstellungstätigkeit im Schloss Wildegg war indessen gleich wie die Leihgaben an andere Institutionen in ihrem Umfang nicht gross genug, um damit die Forderungen nach dezentralisierter Ausstellung erfüllen zu können. Beides zeugt aber davon, dass museumsintern manche Dinge für den Hauptsitz in Zürich weniger unentbehrlich waren, als von den Museumsbehörden gegen aussen kommuniziert wurde, und deshalb in einem gewissen Mass durchaus Objektbewegungen stattfanden.
Verkäufe
Bestimmte Objekte waren sogar definitiv entbehrlich: Bereits in den 1890er-Jahren erklärten die Behörden des Schweizerischen Landesmuseums manche Stücke aus ihrer Sammlung als überflüssig für das Museum und verkauften sie.227 Gesetzlich verankert wurde der Verkauf in der Erweiterung des Bundesbeschlusses von 1902.228 Die «Freiheit des Handels», 229 so wurde damals argumentiert, sei notwendig, weil der zur Verfügung stehende Kredit nicht ausreiche für Ankäufe.230 Das finanzielle Argument sollte auch später immer wieder vorgebracht werden, unabhängig davon, ob der Museumsetat tatsächlich geschmälert worden war.231 Das erste Ziel der Museumsbehörden war, durch den Verkauf mehr Mittel für Objektkäufe zu erwirtschaften. In den 1910er- und 1920er-Jahren wurde der Verkauf von Sammlungsstücken wiederholt zu einem zentralen ökonomischen und sammlungspolitischen Steuerungsmittel des Landesmuseums. Das belegen die Gewinnzahlen: Wurden in den 1900er-Jahren jährlich bloss einige hundert bis tausend Franken durch den Verkauf von Sammlungsstücken erwirtschaftet, 232 so schnellten die Gewinne in den beiden Folgejahrzehnten immer wieder massiv in die Höhe, beispielsweise 1912 auf 14 059.70 Franken233 oder 1921 auf 27 189 Franken.234 Das waren beträchtliche Summen gemessen am jährlich gesprochenen Altertümerkredit von 50 000 Franken. Diese Verkäufe waren nur denkbar, weil die Verantwortlichen der Auffassung waren, dass innerhalb der Museumssammlung Überfluss bestand, und eine bestimmte Vorstellung davon hatten, was in eine staatliche Sammlung gehört. Ich will auf diese Kaufgeschäfte nun näher eingehen und zeigen, dass sich diese Praktiken nicht in den bisherigen Analyserahmen der Forschung zu Funktion und Bedeutung kulturhistorischer Museen einordnen lassen.
Die getätigten Kaufgeschäfte waren von zweierlei Art: Zum einen wurden Sammlungsstücke verkauft, die bereits als Handelsgut in die Sammlung gekommen waren. Zum anderen gab es den Verkauf von Objekten, die eigentlich in die Sammlung des Landesmuseums aufgenommen worden waren, um als Sammlungsgut aufbewahrt zu werden. Ihr Verkauf gestaltete sich schwieriger, denn sie mussten zuerst vom Sammlungsgut in Handelsgut umgewertet werden, um überhaupt verkauft werden zu können. Ein Beispiel für die erste Geschäftsart ist der Verkauf von den 1916 in Sitten erworbenen 380 langen Spiessen, 853 Armbrustbolzen und 490 Pfeileisen. Sie wurden in das Landesmuseum aufgenommen in der Absicht, den grösseren Teil davon wieder zu verkaufen. Für die eigene Sammlung wurden 190 Spiesse (entsprechend der Bewaffnung einer Kompanie) sowie eine Serie Armbrustbolzen behalten. 30 Spiesse wurden dem Museum im Schloss Valeria in Sitten geschenkt, die restlichen Gegenstände verkaufte man an Museen und Private im In- und Ausland. In der Schweiz ansässige, öffentliche Museen wurden preislich begünstigt.235
Dass Objekte bloss als Handelsgut in das Landesmuseum aufgenommen und nicht dauerhaft eingelagert wurden, widerspricht den gängigen Auffassungen über die Bedeutung von musealen Sammlungen und ihren Wertesystemen und Bewertungsprozessen. Ich möchte dies anhand der in der deutschsprachigen Museumsgeschichte vermutlich am häufigsten zitierten Studie von Krzysztof Pomian über die gesellschaftliche Bedeutung der Museen und ihrer Sammlungstätigkeit erläutern.
Pomian beschreibt folgenden Prozess, den Objekte grundsätzlich durchlaufen können: Dinge verlieren ihre Nützlichkeit, gehen vergessen und werden damit zu Abfall. Für gewisse Dinge ist dies aber nicht die letzte