Bedeutend ist das Viele
Bei aller Kritik, schliesslich wurde die Menge auch als Machtfaktor verstanden: In der modernen Welt mit ihren materiellen und wissensbasierten «Multiplikationsdynamiken», 107 angelegt auf Machtsteigerung, hiess der Besitz einer Menge von Dingen der Besitz von Macht, im Wortsinn des lateinischen multus (viel, gross, stark).108
Zur Kritik an der fehlenden Sichtbarkeit der gesamten Sammlung des Landesmuseums gesellte sich die Sorge über eine Machtballung in der Bundesinstitution, wobei die grosse Objektmenge (die Anzahl an einem Ort versammelter Objekte) als Ausdruck davon gesehen wurde. Mehrfach wurde gefordert, dass die unausgestellten Sammlungstücke zugänglich gemacht werden sollten, indem sie auf andere Museen verteilt und dort gezeigt würden. Auch von einer Beschränkung bei den Neuerwerbungen war die Rede.109 Die Museumsdirektion wehrte sich gegen die Verteilung ihrer Objektbestände. Denn sie verstand den Angriff auf die Menge als Bedrohung ihrer Macht und Bedeutung.110 Hinter den Forderungen nach Dezentralisation und Beschränkung konnten sowohl eine föderalistische Grundhaltung wie auch spezifische regionale Einzelinteressen stehen, die gewisse Politiker und Vertreter von Museen hegten.
Der konservative Ständerat George de Montenach forderte 1924 eine Umstrukturierung der Museumslandschaft der Schweiz nach föderalistischen Kriterien, mit Sammlungsschwerpunkten in verschiedenen Städten. Er beurteilte die nationale Sammlungspolitik, die trotz überfülltem Landesmuseum in Zürich weiter auf intensives Sammeln setzte, als unhaltbar:
«[N]i la Suisse, ni personne n’ont intérêt à voir le Musée national devenir, par ses dimensions, un véritable monstre, accaparant tout, aspirant tout, sans que rien vienne jamais interrompre ses actions pneumatiques.»111
Um handfeste lokale Interessen ging es Karl Emil Wild, dem weiter oben erwähnten Regierungsrat aus St. Gallen, einem Liberalen, 112 der für das «Auspacken» plädiert hatte. Wild war auch Leiter des Industrie- und Gewerbemuseums von St.Gallen. Er hatte beim Landesmuseum 1915 angefragt, Textilien aus dessen Depot leihweise ausstellen zu dürfen, was abgelehnt worden war. Nun machte er sich stark für die Dezentralisation der Bestände, vermutlich in der Hoffnung, dadurch die gewünschten Stücke für seine Sammlung zu erhalten.113 Im Weiteren wurde auch verlangt, zu prüfen, ob die Bestände des Landesmuseums wenigstens durch temporäre Ausstellungen ausserhalb des Landesmuseums erschlossen werden könnten, bis ein Erweiterungsbau zustande käme.114 Bis auf eine Gemäldeausstellung 1923 scheiterten alle dahingehenden Versuche.115 Einerseits wurde das dafür zusätzlich erforderliche Geld nicht gesprochen.116 Andererseits hielt sich das diesbezügliche Engagement des Museumsdirektors in Grenzen. Er wollte lieber rasch einen Erweiterungsbau realisieren.117 Sowohl Hans Lehmann als auch der langjährige Präsident der Museumskommission, Eduard Vischer-Sarasin, Architekt und Grossrat aus Basel, 118 waren der Ansicht, dass die Bedeutung der Sammlung in ihrer Grösse liege. Sie sahen die Dezentralisationsforderungen als doppelte Gefahr, als Gefahr für die staatspolitische Deutungshoheit und als Gefahr für die wissenschaftliche Deutungshoheit der Institution: Eine «Verzettelung der Sammelobjekte» würde dem Zweck des Landesmuseums, «ein Gesamtbild der Kultur unseres Landes im Verlaufe der Jahrhunderte zu bieten», 119 widersprechen. Daher müsse um jeden Preis verhindert werden, «dass das eidgenössische Institut in seinen Sammelbeständen geschwächt werde, weil es in diesem Falle seine Aufgabe als Landesinstitut nicht mehr erfüllen könnte, sondern auf die Bedeutung eines kantonalen Museums herabsänke».120 Ihrer Argumentation lag das zentralistische Modell eines Bundesstaates zugrunde, der mehr war als ein föderalistischer Staatenbund und die Summe seiner Teile.
Gleich wie die staatspolitische sahen sie auch die wissenschaftliche Deutungshoheit proportional zur Anzahl der Sammlungsstücke: Wie alle anderen Einrichtungen wissenschaftlicher Art seien die Museen gezwungen, stetig an ihrer Weiterentwicklung zu arbeiten, denn «von dem Momente an, da das Landesmuseum nicht mehr weiter sammelte, würde darum auch sein Ansehen zurückgehen.»121 Dann wäre mit dem Verlust der Anerkennung «der Fachkreise in allen Ländern»122 und «der Besucher aus allen Weltteilen»123 zu rechnen.124 In dieser Logik war der Erweiterungsbau die einzige Lösung: Er bot mehr Raum für die konzentrierte Versammlung und Ausstellung von Objekten. Daher reichte die Museumskommission mehrfach Gesuche für eine Erweiterung ein.125 Auch manche Teilnehmer der Mannheimer Konferenz wünschten sich Museumsräume, die «nach Bedürfnis vergrössert»126 werden könnten und entsprechend der Unabgeschlossenheit der Sammlungen «wandelba[r]»127 wären.128
Der Historiker Ulfert Tschirner beurteilt die Mannheimer Konferenz als Moment, in dem die «Epoche wahlloser Akkumulation»129 verabschiedet und eine «Abkehr von der Idee des Museums als verräumlichter Wissensordnung»130 propagiert worden sei. Diese Einschätzung ist nicht haltbar. Die zitierten Stimmen zeigen, man wollte sich nicht beschränken, sondern die Räume durch Expansion entsprechend der Objektmenge dynamischer gestalten oder die Menge aufteilen. Für das Landesmuseum lässt sich ganz eindeutig sagen, dass am Ideal einer verräumlichten Wissensordnung und an der Akkumulation festgehalten wurde. Mehr noch: Sie wurden explizit propagiert.
Alles sichtbar machen für alle? – Bildungspolitische Argumente
Die dritte prägende Auffassung über das Wesen des Museums, welche die Raum-Menge-Problematik verschärft hatte, war eine bildungspolitische, die die sozialdemokratisch Politisierenden mit den Bürgerlichen teilten. Es bestätigt sich auch hier, was Hans Ulrich Jost allgemein für die Rolle der Sozialdemokraten in der Schweiz in der Kulturpolitik der 1920er-Jahre konstatiert hat: Sie übernahmen das kulturelle Erbe des Bürgertums des 19. Jahrhunderts unkritisch und verlangten einzig dessen «Popularisierung».131 Ihre Stimmen lassen sich dem Vorhaben zuordnen, das für die mit der Moderne entstandenen Museen formuliert wurde, nämlich: die Museumsbesucher anhand der Präsentation von Gegenständen zu bilden und zu erziehen. Der Soziologe Tony Bennett spricht von den Museen als «institutions of the visible».132 Mit ihren spezifischen Arten, Dinge darzubieten und visuelle Umfelder zu schaffen, schulten die Museen besondere Praktiken des Sehens.133
Exemplarisch für eine solche bildungspolitische Forderung ist jene von Nationalrat Ernst Reinhard (dem damaligen Präsidenten der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz): Die Altertümer des Landesmuseums wie auch die staatliche Sammlung zeitgenössischer