Das Ergebnis der alternierenden Tätigkeiten von Bauen und Erwerben war, dass zuletzt an vielen Orten die ausgestellten Objekte in Konflikt mit der architektonischen Substanz gerieten. Die Vorstellung, dass jedes Ding seinen festen Platz haben sollte, nun aber die Dinge und Plätze nicht zueinander passten, führte nach der Schilderung im Jahresbericht zu einer merkwürdigen Situation bei der Museumseröffnung von 1898. Das Gebäude war gleichzeitig überfüllt und leer: Einem Teil der bereitgestellten Vitrinen fehlte am Eröffnungstag der Inhalt. Leer, wie sie waren, blieben sie mit Vorhängen verhüllt.78 Zugleich beklagte die Direktion, dass zu wenig Platz vorhanden sei, um die stetig wachsende Objektmenge ausstellen zu können.79
Im Sammlungsalltag der folgenden Jahre lag das grösste Problem darin, wie die neu in die Sammlung eingegangenen Objekte im statischen Gefüge von Sammlung und Raum platziert werden sollten. Hans Lehmann, der 1903 die Nachfolge von Heinrich Angst als Direktor am Museum antrat, schreibt dazu:
«Überall stösst die angreifende Hand auf Schwierigkeiten, die durch die eigentümliche, individuelle Raumgestaltung, oder durch die für den Reichtum der Sammlung sehr drückende Enge des Gebäudes entstehen. Wohl wurde an manchen Stellen versucht, früher ausgestellte Objekte durch seither erworbene, charakteristischere oder bessere zu ersetzen; doch zeigte die Erfahrung, dass das bisherige Gleichgewicht der Anordnung und Verteilung der Objekte leicht zu Schaden kommt. Oft steht die Direktion vor der Wahl, interessante Objekte entweder im Depot zu behalten, oder dann in einer Weise auszustellen, die doch nur als ein Notbehelf und nicht als eine definitive Eingliederung betrachtet werden kann.»80
Das Landesmuseum war mit seinem «Reichtum der Sammlung»81 und der «sehr drückende[n] Enge des Gebäudes»82 nicht alleine. Diese Problematik war in der damaligen nationalen und internationalen Museumslandschaft allgegenwärtig.83 Salopp gesagt lässt sich von einem Systemfehler sprechen. Das geht aus der Dokumentation einer Konferenz in Mannheim hervor, wo sich 1903 die Direktoren von natur-, kunst- und kulturgeschichtlichen Museen aus den deutschsprachigen und skandinavischen Ländern trafen, um darüber zu beraten, «wie die Schätze der Museen weiteren Schichten des Volkes nutzbar gemacht werden können».84 Die Konferenzteilnehmer waren sich einig, dass man bei der Errichtung der Museen zu wenig an ein künftiges Wachstum der Sammlungen gedacht hatte und daher nun die vorhandenen Räumlichkeiten für die Objektmengen zu klein waren.85 Eduard Leisching, der Direktor des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie in Wien, brachte die Problematik folgendermassen auf den Punkt:
«Man dachte nie an das Wachsen der Sammlungen […]. Indem man versäumte, bei der Wahl des Platzes auf wachsendes Raumbedürfnis zu achten, hat man überall Museen, die von unten bis oben überfüllt, jeder inneren Bewegung beraubt sind und Gefahr laufen, zu ersticken.»86
Diese Raum-Menge-Problematik stellte sich zwar auch in Archiven und Bibliotheken, die mit vergleichbaren Bewahrungsabsichten wie die Museen geschaffen worden waren.87 Doch bei den Museen manifestierte sie sich in verschärfter Form. Das lag an den über das 19. Jahrhundert hinaus bestehenden Auffassungen vom Wesen des Museums: erstens in der Vorstellung vom Museum als Bewahrungsstätte einer abgeschlossenen Vergangenheit; zweitens in der Idee, dass das Ansehen des Museums mit der Grösse seiner Objektmenge wachse; und drittens im Anspruch, die Museumsbesucher durch die Präsentation aller Sammlungsobjekte in den Ausstellungsräumen zu bilden.
Ich will diese drei Auffassungen am Beispiel des Landesmuseums genauer darlegen und dabei zeigen, wie sie mit verschiedenen Machtfragen verbunden waren: der Frage nach der Zugänglichkeit der Sammlung für bestimmte Personenkreise, der Frage nach dem kantonalen oder regionalen und eidgenössischen Einflussbereich und der Frage nach den politischen und wissenschaftlichen Wirkungsmächten.
Vorweg ist Folgendes zu bemerken: Die Meinungsallianzen verliefen weder nach dem Schema Parlament gegen Museumsbehörden, noch waren eindeutige parteipolitische Grabenkämpfe auszumachen. Es gab wechselnde Lager von Befürwortern und Gegnern bestimmter Lösungsvorschläge. Als wichtige Scharnierstelle zwischen der politischen Exekutive und der Museumsdirektion wirkte die Landesmuseumskommission: Sie war 1891 als Kontrollinstanz eingesetzt worden, um die Geschäfte des Landesmuseums und seiner Direktion zu überwachen. Die Kommission stand unter der Oberaufsicht des Bundesrats. Der Bundesrat des Departements des Inneren, der für das Landesmuseum zuständig war, nahm an den Sitzungen der Landesmuseumskommission nur manchmal teil.
Über die Beziehungen der Kommissionsmitglieder zu den Parlamentariern ist in den Quellen wenig zu erfahren. Sicherlich bestanden zwischen ihnen teilweise engere Bindungen, denn die Mitglieder (Kunsthistoriker, Architekten, Archivare oder Museumsdirektoren) waren selbst oft politisch aktiv als Grossräte, Regierungsräte oder Ständeräte. Ferner war der Stadtpräsident von Zürich ständiges Mitglied der Kommission.88 Die einzelnen Positionen der Mitglieder innerhalb der Museumskommission zu eruieren, ist aber kaum möglich. Namentliche Nennungen sind in den Sitzungsprotokollen selten. Für die Debatten in den Ratssessionen verfassten die Kommission und der Museumsdirektor jeweils zuhanden des Bundesrats Stellungnahmen, wobei die Stellungnahmen der Kommission meist auf einem vom Museumsdirektor erstellten Papier basierten. Der Bundesrat übernahm die Stellungnahmen oft eins zu eins.
Das Ideal einer vollständigen Sammlung von Dingen der Vergangenheit
Im 19. Jahrhundert etablierte sich ein neues Verständnis der Geschichte. Geschichte sei ein Lehrstück für gegenwärtige Prozesse. Dem Museum wurde dabei die Rolle einer Geschichtsvermittlerin eingeräumt.89 Die Vergangenheit wurde verstanden als ein in sich abgeschlossener Zeitraum, dessen materielle Hinterlassenschaft die Museen zu bewahren hatten. Es ging darum, ein umfassendes Bild einer Vergangenheit zu vermitteln, deren Anfang und Ende fixiert war. 1889 wurde im Programm für ein eidgenössisches Landesmuseum formuliert:
«Der Zweck des Landesmuseums ist, ein möglichst vollständiges Bild von der Kultur- und Kunstentwicklung auf den Gebieten der heutigen Schweiz von vorgeschichtlicher Zeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zu geben.»90
Entsprechend dem Vorstellungsbild einer abgeschlossenen Vergangenheit nahm man auch an, dass die Anzahl der Objekte, welche der Vergangenheit zugerechnet wurden, endlich und daher kalkulierbar war. Der Direktor des Landesmuseums, Hans Lehmann, schrieb 1927:
«[A]uf der ganzen Welt wird weiter gesammelt, solange überhaupt noch eine Möglichkeit besteht, die Museen auszubauen, da naturgemäss der Bestand an Altertümern mit jedem Jahre abnimmt.»91
In dieser Logik war ein Museum erfolgreich, wenn es möglichst viel des knappen Gutes noch zusammentragen konnte. Wie es die Behörde des Landesmuseums ausdrückte: Es ging darum, «de[n] letzte[n] Rest unserer Altertümer […] für unser eigenes Land zu retten»92 – also zu retten, was noch zu retten war.93 Aufgrund dieses Vergangenheitsbildes wurde die Quantität als eine Qualität angesehen. Museen wurden als Bewahrungsstätten einer Welt verstanden, die im Verschwinden begriffen war, fern gelegen von den grossen Warenströmen und der verschärften «Expansion der Gegenstandswelt», 94 die mit der industriellen Produktion entstanden war.95 Die Museumsbehörden sahen es als ihre Pflicht, die begonnenen Sammlungen «möglichst zu vervollständigen».96 Entsprechend war man bestrebt, «Lücken» zu füllen. Die Finanzdelegation verlangte 1910 «ein Masshalten im Ankaufe von Gegenständen zweiter und dritter Qualität», 97 um das Raumproblem zu lösen. Die Museumsbehörden antworteten, ihre Ankaufspraxis entspreche den gängigen, von Fachleuten gutgeheissenen Praktiken.98 Es sei legitim, qualitativ weniger hoch eingestufte Dinge zu kaufen, wenn diejenigen «ersten Ranges, welche geeignet wären, die Lücken zu füllen, überhaupt nicht mehr erhältlich sind».99
Dass die vorhandene Sammlung das Mass aller kommenden Dinge ist, sei typisch für kulturhistorische Museen, schreibt Sharon Macdonald in ihrem Aufsatz über die Sammlungspraktiken von Museen.100 Deren Bestrebungen