Die damaligen Mitglieder der Landesmuseumskommission argumentierten ähnlich: Heinrich Mousson, 137 ab 1917 in der Kommission und ab 1919 ihr Präsident, Anwalt, freisinniger Regierungsrat von Zürich und engagiert in Bildungsfragen, vertrat beispielsweise die Meinung, «dass das Landesmuseum zuviel Gegenstände enthalte und es vorzuziehen wäre, mehr lokale Sammlungen zu schaffen, welche den Bedürfnissen des grossen Publikums besser entsprechen».138 Der Museumsdirektor Hans Lehmann aber war der Ansicht, dass das Problem nicht im Umfang der Sammlung liege, sondern beim ungebildeten Publikum: Er hielt es «nicht für richtig, wenn man sagt, die Museen dürfen einen gewissen Umfang nicht überschreiten, […] unser Volk muss vielmehr dafür erzogen werden, die Museen richtig zu benutzen.»139 Schliesslich wird in den 1910er- und 1920er-Jahren am Bildungsideal und dem damit verbundenen «Bild vergangener Zeiten»140 festgehalten.141
Dass die Bildungsabsicht so sehr über die Ausstellungspräsentation eines Museums erfüllt werden sollte, ist eine Besonderheit der kulturhistorischen Museen (und der ihnen nahestehenden kunsthistorischen Museen). Die naturhistorischen Museen hatten sich vom Ideal einer an den Ausstellungsraum gekoppelten, überblickbaren Wissensordnung, die ein homogenes Publikum belehren sollte, frühzeitig verabschiedet. Die kunsthistorischen Museen müssten dem folgen, meinte Alfred Lichtwark, Direktor der Hamburger Kunsthalle, an der Konferenz in Mannheim: Sie sollten sich von der Idee einer Gesamtpräsentation aller Sammlungsobjekte verabschieden und stattdessen ihre Bestände in Schau- und Studiensammlungen unterteilen, wie es manche naturhistorischen Museen bereits taten.142 Ihm schwebte die Aufteilung in «kleine, sehr gewählte, sehr lehrreiche Schausammlungen fürs grosse Publikum» und in «bequeme, weiträumige Magazine und Arbeitsräume für die Forscher»143 vor.
Eine solche Zweiteilung der Sammlung wurde auch für das Schweizerische Landesmuseum vorgeschlagen. Alfred François Cartier, Mitglied der Landesmuseumskommission und selbst Direktor des Musée d’Art et Histoire in Genf, 144 plädierte 1919 für eine Unterteilung in ein «Musée pittoresque» für die «breiten Schichten der Bevölkerung» und in «systematisch geordnete Sammlungen für die wissenschaftliche Forschung».145 Aber erst in den 1930er-Jahren wurde eine Teilung der Bestände des Landesmuseums umgesetzt und auch dann nur für bestimmte Sammlungsbereiche. In den Ausstellungsräumen des Schweizerischen Landesmuseums war in der Zwischenkriegszeit überhaupt nichts von einer Veränderung zu spüren und schon gar nicht von den experimentellen Ausstellungsweisen, die an anderen Museen ausprobiert wurden.146
Dass so lange alles beim Alten blieb, hatte vermutlich auch damit zu tun, dass die Hoffnung auf eine Expansion der Ausstellungsfläche immer wieder genährt wurde und es insofern legitim blieb, am herkömmlichen Ideal der Sichtbarkeit festzuhalten. Ab Ende der 1910er-Jahre begann sich nämlich abzuzeichnen, dass der an das Landesmuseum angrenzende Gebäudetrakt frei werden würde: Die Kunstgewerbeschule sollte einen Neubau erhalten, und die Stadt beabsichtigte, die frei werdenden Räume dem Landesmuseum zu überlassen.147 – Für den Bund war dies eine gute Lösung, wollte er doch weiterhin die baulichen Investitionen vom Museumsstandort Zürich finanziert haben. – 1934 war es dann so weit. Die Museumsverwaltung und die prähistorische Sammlung zogen in den frei gewordenen Gebäudeflügel um. Letztere wurde dabei als erste Sammlung des Landesmuseums «in eine Schau- und eine Studiensammlung»148 aufgeteilt.
Die Deutungshoheit der Museumsbehörden
Wer aber trug die Verantwortung dafür, dass sich die Vorstellungsbilder aus der Gründungszeit des Museums bis Ende der 1920er-Jahre so hartnäckig hielten? Die Parlamentarier machten zwar die Museumsbehörden dafür verantwortlich, dass sich die Situation im Museum nicht zum Besseren wendete und das Platzproblem blieb. Das Verhalten der Museumsvertreter stellten sie aber nicht grundsätzlich in Frage und beschnitten sie weder in ihrer Entscheidungsmacht, noch entzogen sie ihnen die Deutungshoheit über die Sammlung. Dafür waren vermutlich zwei Gründe verantwortlich: Erstens waren die Politiker verhältnismässig wenig interessiert an der Museumsfrage und liessen die Museumsbehörden dementsprechend gewähren. Zweitens stellten sie deren fachliche Kompetenzen nicht in Frage und überliessen es ihnen, die endgültigen Entscheidungen zu treffen.
Das Desinteresse am Museum ist an der Geldverteilung ersichtlich. Wegen der Kriegslage, in der sich Europa während der 1910er-Jahre befand, war generell weniger Geld vorhanden. Die verfügbaren Bundesmittel flossen in andere Projekte als das staatliche Museum: in die Erweiterungsbauten der Eidgenössischen technischen Hochschule und in den Bau einer Landesbibliothek, der heutigen Schweizerischen Nationalbibliothek.149 Der Institutionsetat des Landesmuseums aber war verkleinert worden.150 Hatte in den Anfangsjahren das Parlament nebst dem fixierten Altertümerkredit regelmässig mehrere zehntausend Franken für zusätzliche Ankäufe gesprochen, so war dies nach Beginn des Ersten Weltkriegs nur noch selten der Fall.151 Am Rande bemerkt fällt auf, dass der Erste Weltkrieg in den Debatten über das Landesmuseum und in seinem Sammlungsalltag vollkommen inexistent war. Mit dem Zweiten Weltkrieg verhielt es sich dann ganz anders.
Die Museumsbehörden waren ihrerseits nicht bereit, über die Ziele des Museums und seine Sammlungsinhalte zu diskutieren, obwohl sie intern die Ansicht äusserten, dass es diesbezüglich Erklärungsbedarf gab.152 Insbesondere Hans Lehmann sah es als ein Problem, dass im gesetzgebenden Bundesbeschluss von 1890 kein eigentliches Sammlungsprogramm formuliert worden war. Darin stand ja nur, dass das Schweizerische Landesmuseum dazu bestimmt sei, «bedeutsame vaterländische Altertümer geschichtlicher und kunstgewerblicher Natur aufzunehmen und planmässig geordnet aufzubewahren».153 Der Begriff«bedeutsam» war nach Hans Lehmann «sehr dehnbar».154 Die Museumsbehörden sahen sich als alleinig kompetent, diesen Begriff mit Inhalt zu füllen. Das verdeutlicht folgendes Beispiel: Der freisinnige Zürcher Ständerat Oskar Wettstein forderte im Rahmen der Debatten über das Landesmuseum 1915, dass wasserwirtschaftliche Modelle, die an der Landesausstellung von 1914 in Bern gezeigt worden waren, «als Erzeugnisse unserer Kultur»155 in die Sammlung des Landesmuseums aufgenommen werden sollten.156 Die Kommission des Landesmuseums sprach sich dagegen aus, exemplarische Zeugen der Industrialisierung und Technisierung zu sammeln.
In ihrer offiziellen Begründung erläuterte die Kommission nicht, weshalb ein wasserwirtschaftliches Modell ihrer Meinung nach nicht dem gesetzlichen Sammlungsauftrag des Museums entsprach. Stattdessen griff sie den seitens der Politik vorgebrachten Vorwurf der zu grossen Sammlungsmenge als Gegenargument auf, um die unterschiedlichen Vorstellungen über die Inhalte der Sammlung auszuräumen. Das Mengenargument musste herhalten, um die inhaltlichen Diskussionen abzuwürgen:
«Nach Ansicht der Mehrheit der Kommission gehören nur solche technischen Modelle in das Landesmuseum, diezu [sic!] dessen Sammlungsgegenständen einen Bezug haben. Die Darstellung der Entwicklung von Gebieten der Technik als solcher anzustreben, würde sehr weit führen und kaum in den gesetzlichen Rahmen der Sammlungstätigkeit des Landesmuseums passen. Es würde auch nicht gerade deren Einschränkung fördern, die andererseits verlangt wird.»157
Die Meinungen in der Museumskommission waren in dieser Sache gleichwohl nicht derart eindeutig, wie es gegen aussen scheinen mochte. Das geht aus der internen Besprechung hervor. Als der Schweizerische Wasserwirtschaftsverband für 500 Franken drei Modelle von Wasserrädern offerierte, die in Bern gezeigt worden waren, sprachen sich zwei der fünf anwesenden Kommissionsmitglieder für die Erwerbung aus.158
Josef Zemp (vgl. Abb. 13), der seit der Gründung des Landesmuseums für dieses tätig war, 159 meinte, die Modelle böten durchaus ein «Bild von der Entwicklung der Kultur unseres Landes», wogegen der Kommissionspräsident Eduard Vischer-Sarasin einwandte, sie stünden «nicht in direkter Beziehung» zur Sammeltätigkeit des Landesmuseums.160
Dass