Der besondere «Mechanismus der Schenkungen und Stiftungen»190 findet sich in museumskritischen Schriften beschrieben. Beispielhaft ist dafür Paul Valérys Essay über Das Problem der Museen von 1923. Valéry schrieb:
«Le mécanisme des dons et des legs, la continuité de la production et des achats, – et cette autre cause d’accroissement qui tient aux variations de la mode et du goût, à leurs retours vers des ouvrages que l’on avait dédaignés, concourent sans relâche à l’accumulation d’un capital excessif et donc inutilisable. […] Mais le pouvoir de se servir de ces ressources toujours plus grandes est bien loin de croître avec elles. Nos trésors nous accablent et nous étourdissent.»191
Die Urteile über die Objektmenge in den Ausstellungsräumen des Schweizerischen Landesmuseums gleichen demjenigen Paul Valérys: Sie wurde als zu gross und in ihrer Form als unzweckmässig empfunden. Schenkungen waren wichtig für den Aufbau der Museen gewesen. Nach dem «Institutionalisierungserfolg»192 zeigten sich die Museen aber oft überfordert, weitere anzunehmen, besonders wenn sie zuweilen noch mit besonderen Konditionen verbunden waren.193 Andererseits konnte dieses wahrgenommene «Übermass» im konkreten Umgang mit der Sammlung auch nützlich sein, wie sich zeigen wird.
Handhabung der Fülle
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde das Wachstum der Sammlung zwischenzeitlich etwas gebremst. Die Gründe waren der verkleinerte Institutionsetat und die steigenden Preise für Altertümer. Erwerbungen waren nicht mehr im gleichen Mass möglich wie vor dem Krieg.194 Auch die Schenkungen wurden weniger.195 Doch das gebremste Wachstum beeinflusste die Auseinandersetzungen um die «Überfüllung des Museums»196 nicht. Erstaunlich nahtlos gingen die Debatten von 1910, 1915 und 1919 ineinander über. Auch die durch die Kriegsjahre veränderten Schwerpunkte auf der politischen Agenda hatten keine direkten Auswirkungen auf die Diskussionen, ausser man will die fehlende Beschlussfassung zur Mengenproblematik als Indiz für eine andere Prioritätensetzung verstehen.
Innerhalb des Museums, in der alltäglichen Sammlungspraxis, kam es hingegen zu Neuerungen: Die Museumsmitarbeiter versuchten Ordnung in die Menge zu bringen, die Direktion und die Museumskommission liehen Objekte an andere Institutionen aus, und die konstatierte Fülle wurde als Potenzial gesehen, um die Qualität der Sammlung zu optimieren. Die vorhandenen Sammlungsstücke wurden neu bewertet, zur Handelsware erklärt und verkauft. Aus dem gewonnenen Geld erwarb man neue Objekte.
Wie ich zeigen werde, gingen manche Änderungen in die Richtung der Forderungen, die in den Debatten zur Mengenproblematik geäussert worden waren. Doch sie wurden längere Zeit kaum über die Institution hinaus sichtbar gemacht und wahrgenommen. Dementsprechend waren sie auch nicht Gegenstand der geschilderten Debatten. Wie ich noch darlegen werde, kam es um 1928 zu einer Wende. Auf die erneut lancierte Debatte folgten erstmals direkt erkennbare Handlungen: Die Museumsbehörden entschieden, gewisse Sammlungsbestände dauerhaft wegzugeben und andere nicht mehr weiter auszubauen. Zudem zeichnete sich ab, dass eine baldige Veränderung in der Raumsituation stattfinden könnte, sodass die politischen Behörden glaubten, auf weitere Debatten über die Menge verzichten zu können.
Orten und ordnen
Auf den Vorschlag der Finanzdelegation von 1910, das Landesmuseum solle Sammlungsstücke abgeben, um den Platzmangel zu beheben, antworteten die Museumsbehörden damals wie folgt: Erst wenn der Erweiterungsbau vorhanden sei, könne entschieden werden, welche Stücke entbehrlich seien, weil in den vorhandenen Räumen keine «vollständige[…] Übersicht»197 über die Sammlung möglich sei.198 Aus den Kommissionsprotokollen und den Jahresberichten geht aber hervor, dass die Museumsangestellten einen wesentlichen Teil ihrer Arbeit genau dieser angeblich unmöglichen Tätigkeit widmeten: Sie versuchten, eine Übersicht über die Bestände zu gewinnen. Hauptsächlich ging es darum, festzustellen, was in welchen Räumen vorhanden war, und ein System zu entwickeln, um die Objekte lokalisieren zu können.
Hans Lehmann wollte den gesamten Sammlungsbestand systematisch erfassen. Nach seinem Amtsantritt 1903 wurde «sofort», wie es hiess, «an die Anlage eines Standortkataloges geschritten, d.h. an ein Inventar der sämtlichen, in den Museumsräumen und Depots aufbewahrten Gegenstände».199 Weiter war ein Assistent beauftragt, die neu erworbenen Objekte in Eingangsbüchern zu erfassen, indem er sie beschrieb und vermerkte, wo sie ausgestellt oder magaziniert wurden.200
In der Zeit von Lehmanns Vorgänger, Heinrich Angst, stand die buchhalterische Dokumentation zuhanden der Finanzkontrolle im Vordergrund: Es wurden Inventare der Objekte angelegt, die Auskunft erteilten über die laufenden Ausgaben, die Ankaufspreise der Altertümer und die Schätzungswerte der eingegangenen Depositen und Geschenke. Der «Buchhalter-Kassier» betreute diese Verzeichnisse.201 Die Finanzkontrolle des Finanzdepartements wie auch die Museumskommission überprüften von Zeit zu Zeit stichprobenartig, ob die erworbenen Objekte noch auffindbar waren. Sie schickten dafür einen Assistenten des Museums los, um bestimmte Objekte herauszusuchen und vorzuweisen.202 Nach der Einschätzung von Lehmann war nur ein seit längerer Zeit der Museumsverwaltung angehörender Beamter, der aus dem Gedächtnis wusste, wo sich was befand, in der Lage, die Gegenstände zu finden.203 Dass andere Suchhilfen fehlten, kann einerseits mit dem gehegten Ideal einer an den Ausstellungsraum gekoppelten überblickbaren Objektordnung erklärt werden. Andererseits wird daran auch die grosse Bedeutung der Objekte als Kapitalanlage erkennbar, wo das saubere Festhalten des monetären Werts zentral war. Die immense Grösse der Menge verlangte nun aber nach einem anderen Erfassungssystem, auch wollten die Museumsbehörden mehr als den Geldwert der Objekte festgehalten wissen.
Während seiner Amtszeit liess Hans Lehmann das System zur Erfassung der Sammlungsbestände mehrfach überarbeiten. In Zusammenarbeit mit dem eidgenössischen Finanzdepartement wurde versucht, ein Ordnungssystem zu finden, das die Angaben bündelte: diejenigen, die die Finanzkontrolle forderte (z.B. der aktuelle Versicherungswert), und diejenigen, die das Museumspersonal neu als wichtig ansah (z.B. eine Objektbeschreibung). Es wurde zu diesem Zweck ein Inventarbuch mit fortlaufender Nummerierung über alle Objekteingänge sowie nach Sach- und Materialgruppen angelegte Spezialkataloge und Inventare geführt, wobei die Standortangaben – in welchem Raum sich ein Objekt befand – nicht mehr fehlen durften. Parallel dazu wurden separate Standortkataloge angelegt.204
Das visuelle Moment blieb für die Orientierung in der Objektmenge weiterhin zentral: Immer wieder wurden die angelegten Bücher mit der Ordnung der Objekte im Museumsraum abgeglichen. Es wurde jeweils eine «Revision»205 durchgeführt, wie der Vorgang genannt wurde. Wenn auch Verzeichnisse die Merkleistung der Museumsmitarbeiter weniger strapazierten, mussten diese doch immer noch wissen, wie die Objekte aussahen, die sie innerhalb eines Raums suchten. «Übersicht gewinnen» muss wörtlich verstanden werden. Das Museumspersonal schaute sich die Dinge an, sichtete Stück für Stück die einzelnen Sammlungsbestände und suchte gezielt nach Objekten, deren Nummer, nicht aber deren Standort bekannt war – oder umgekehrt. Die Standortkataloge wurden aktualisiert, die vorhandenen Inventare überarbeitet.206 Anlass waren nicht selten räumliche Veränderungen: etwa wenn infolge der Kündigung eines Depots Gegenstände verlagert werden mussten.207
Ab den 1920er-Jahren wurde bei den Revisionen in den Depoträumen versucht, Objektgruppen ähnlich wie in den Ausstellungsräumen anzuordnen, «um auch in den Magazinen deren Übersicht und Studium zu erleichtern».208 Man wollte die ausserhalb der Ausstellungsräume befindlichen Sammlungsstücke «allfälligen