Der propagierte Umgang mit den sogenannten volkskundlichen Objekten prägte die Erwerbungspolitik des Schweizerischen Landesmuseums nachhaltig bis 1960. Die Sammlungsschwerpunkte lagen auf den als kunsthistorisch und kunstgewerblich wertvoll beurteilten Objekten, insbesondere städtischer Herkunft.307 Nur ganz kurzfristig wirkte sich die Diskussion um 1928 auch auf die Anzahl der Objekteingänge und -ausgänge aus: In einem Protokoll der Landesmuseumskommission ist zu lesen, dass 1928 keine Geschenke angenommen und Legate abgelehnt wurden.308 Und im Jahresbericht von 1928 wurde, anders als früher, ausdrücklich darauf hingewiesen, welche Objekte als Depositen oder Verkäufe das Museum verlassen hatten.309 Vom Moment an, als klar war, dass die Kunstgewerbeschule in absehbarer Zeit ihren Neubau in der Stadt Zürich erhalten würde und das Landesmuseum die frei werdenden Räume würde übernehmen können, weigerten sich die Museumsbehörden aber, Dinge aus den Depots herauszugeben.310 Sie wollten zuerst die neuen Räumlichkeiten beziehen und erst dann wieder über Objektweggaben nachdenken, lautete ihr Argument.311 Wie erwähnt zogen die Museumsverwaltung und die prähistorische Sammlung dann 1934 in den frei gewordenen Gebäudeflügel um.312
Blick auf spätere Mengenverhältnisse
Die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren für das Landesmuseum eine Zeit der Besitzstandswahrung – mit der Besonderheit, dass vor allem die Museumsdirektion glaubte, den Besitz ständig vergrössern zu müssen, wenn er bewahrt werden sollte. Jeder Objekterwerb wurde als Beitrag und materielles Argument zur institutionellen Festigung des Landesmuseums angesehen.
Wenn ich nun zum Schluss die Ergebnisse zur Thematik des Anhäufens zusammenfasse, will ich dies mithilfe einiger Ausblicke auf die Mengenverhältnisse und die Sammlungspraktiken der folgenden Jahrzehnte tun. Diese Ausblicke sollen zwar nicht in der gleichen empirisch dichten Weise wie die Untersuchungen zu den 1910er- und 1920er-Jahren erfolgen, ermöglichen aber, diese Zeitspanne akzentuierter zu rekapitulieren.
Quantität als dauerhafter Wert
Die Sammlungsbestände des im 19. Jahrhundert neu gegründeten Schweizerischen Landesmuseums wurden durch ihr stetiges Wachstum Anfang des 20. Jahrhunderts zum drängenden Problem. Sie passten nicht mehr in die vorhandenen Ausstellungsräume. So wurde begonnen, die Sammlungsstücke provisorisch in den Dach- und Kellerräumen des Museums einzulagern und einen Erweiterungsbau zu planen. Obwohl seine Realisation in weiter Ferne lag, wurden weiter Objekte erworben, und es mussten zusätzliche Depoträume ausserhalb des Museums angelegt werden.
Der notorische Platzmangel im Landesmuseum und die unausgestellten Sammlungsstücke hatten zur Folge, dass die Praxis und die Ziele des Sammelns des Schweizerischen Landesmuseums während der 1910er- und 1920er-Jahre überdacht, diskutiert und teilweise geändert wurden. Zu einer veränderten Haltung in der Sammlungspraxis führten die wenn auch raren personellen Wechsel in den Museumsbehörden. Der allmähliche Rückzug von Heinrich Angst aus den Museumsgeschäften hatte den Verkauf von Objekten aus der Sammlung gefördert; aus dem Erlös konnten neue Stücke erworben und damit die Zusammensetzung der Sammlung in die gewünschte Richtung gelenkt werden, trotz den vorhandenen räumlichen und finanziellen Beschränkungen. Als die Museumskommission sich nicht mehr nur aus Männern der Gründergeneration zusammensetzte, konnte 1928 eine Neuausrichtung der Sammlungspraxis beschlossen werden.
Als längerfristige Orientierungsgrösse erwies sich das Urteil über die sogenannten volkskundlichen Objekte. Als während der 1930er-Jahre das «vermehrte Interesse weiter Kreise an der Volkskunde der Schweiz»313 Anlass zur erneuten Diskussion über den Status volkskundlicher Sammlungsobjekte in der Sammlung des Schweizerischen Landesmuseums gab, bezogen sich die Museumsbehörden explizit auf den Beschluss von 1928. Fritz Gysin, der Nachfolger von Hans Lehmann, und die Mitglieder der Museumskommission hielten an der Auffassung fest, dass das Arbeitsfeld des Landesmuseums auf dem Gebiet der Geschichte und des Kunstgewerbes liege und kein Anlass bestehe, eine volkskundliche Abteilung zu gründen.314 1944 wurden volkskundliche Objekte, die inzwischen bereits wieder Eingang in die Sammlung gefunden hatten, an das Schweizerische Museum für Volkskunde in Basel als Dauerleihgabe übergeben.315 Erst in den 1960er-Jahren sollte sich die Haltung gegenüber dieser Objektgruppe wieder ändern.316
1928 war kein «harter Schnitt» in der Sammlungspraxis des Landesmuseums. Es gab vielmehr Verhaltensund Argumentationsmuster, die auch in Zukunft beibehalten wurden. Was es aber nie mehr gab, war eine so grosse Angst vor einer Schmälerung des Sammlungsbesitzes wie in den 1910er- und 1920er-Jahren, auch wenn später erneut temporäre und dauerhafte Objektabgaben gefordert wurden.317 Die Museumsbehörden hielten aber während des 20. Jahrhunderts an der Vorstellung fest, dass die museale Sammlung ein Aufbewahrungsort für Objekte sei, die einer Vergangenheit mit fixiertem Schlusspunkt angehörten, auch wenn die Vergangenheit inzwischen als unabgeschlossener Zeitraum gedacht wurde. Fritz Gysin und die Konservatoren waren zwar der Ansicht, dass ein zeitlicher Schlusspunkt auf die Dauer nicht zu halten und die gesetzte Grenze eine willkürliche sei. Aus «rein praktische[n] Überlegungen»318 hielten sie jedoch bis auf Weiteres daran fest:
«Genügt schon der heute vorhandene Ausstellungsraum für die früheren Jahrhunderte bei weitem nicht, so ist er für die neueste Zeit ganz einfach nicht vorhanden.»319
Es war der beschränkte Raum, der nach einer zeitlichen Beschränkung verlangte. Diese Argumentationslogik, in welcher der Ausstellungsraum die Grenzen der Sammlung markiert, verdeutlicht, wie beharrlich sich die Idee hielt, dass das Erwerben und Ausstellen von Objekten untrennbar zueinander gehörten. So beantwortete Fritz Gysin die Frage, ob das Landesmuseum damit fortfahren solle, seine Sammlungen ständig zu vergrössern und sie am Ort seines Sitzes, in Zürich, zu vereinigen, in altbekannter Weise: Zuerst müssten die bauliche Erweiterung des Landesmuseums durchgeführt und dann die entsprechenden Objekte für die Schau- und Studiensammlung ausgewählt werden. Anschliessend könne vom verbleibenden Restbestand allenfalls Entbehrliches weggegeben werden. «Erst dann, weil früher ein wirklicher Überblick nicht möglich ist.»320
Obwohl die Museumsbehörden zwischenzeitlich versuchten, die Anhäufung der Dinge zu steuern und den Forderungen der Politik nachzukommen, blieb während des 20. Jahrhunderts doch das stetige Grösserwerden der Menge grundsätzlich ein erwünschtes Ziel. Dass ihr ganzer Stolz dem Wachstum der Sammlung galt, wird in den Jahresberichten des Schweizerischen Landesmuseums deutlich: Jeder Bericht enthält seitenlange, detaillierte Aufzählungen oder Auflistungen der neu eingegangenen Objekte. Die Weggabe von Sammlungsstücken wurde dagegen kaum erwähnt. Dass gewisse Objekte die Sammlung des Landesmuseums definitiv verliessen, ist nur indirekt aus den Jahresrechnungen ersichtlich, wo der durch den Verkauf von Sammlungsstücken erwirtschaftete monetäre Gewinn aufgeführt ist.321
Ende der 1940er-Jahre gingen die Objektverkäufe zurück, und der Tausch von Sammlungsstücken, der