Anhäufen, forschen, erhalten. Anna Joss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Joss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199112
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für den Verkauf von Sammlungsstücken. Noch 2004 hiess es: In einer «angespannten Finanzlage» sei der Tausch zur gezielten Erweiterung der Sammlungsbestände «eine sinnvolle Massnahme».323 Auch Verkäufe blieben eine Option.324 Der Grundsatz hielt sich, dass das Landesmuseum «mehr Eingangsort als Ausgangsort»325 für Sammlungsstücke sei, wie es ein Kurator 2009 formulierte. Die grosse Menge an Sammlungsstücken wurde weiterhin als zentrales Merkmal einer guten Museumssammlung angesehen. Das zeigt sich nicht zuletzt an den Web-Präsentationen der Museen, die mit ihrer grossen Anzahl Sammlungsobjekte werben.326

      Aufwertung und Expansion der Depoträume

      Dass eine staatliche Sammlung nicht sämtliche Sammlungsstücke ausstellen konnte, war sowohl für die Museumsbehörden als auch für die politischen Behörden lange inakzeptabel. Die Anstrengungen der 1910er- und 1920er-Jahre galten dem Ziel, die magazinierten Objekte zur Ausstellung zu bringen, sei es in einem Erweiterungsbau oder in verschiedenen anderen Museen über die Schweiz verteilt. Dabei kam es zu einer wesentlichen Veränderung ab den 1930er-Jahren: Der Status der Museumsdepots wurde aufgewertet.

      Noch verhalten und ohne sofortige Wirkung war bereits 1928 vorgebracht worden, dass die Sammelbestände grundsätzlich Interessierten zum Studium zugänglich gemacht werden sollten, dafür aber nicht in ihrer «Gesamtheit»327 ausgestellt zu werden brauchten.328 Es war also denkbar, die Sammlungsstücke auch unausgestellt in Zürich aufzuwahren. Die Vorstellung darüber, welchen Umgang mit den Dingen das Museum ermöglichen sollte, begann sich zu verändern. Dass die Sammlung der Bildung der «breiten Schichten der Bevölkerung»329 dienen müsse, war nicht mehr derart prioritär. So wurde die Auffassung vertreten:

      «Das Museum soll nicht nur eine Schaustellung von Altertümern sein, sondern in erster Linie ein wissenschaftliches Institut.»330

      Diese Überlegung ging in die Richtung des Konzepts, das Alfred Lichtwark 1904 in Mannheim vorgeschlagen hatte, nämlich die Zweiteilung der Sammlung in einen Schau- und einen Studienbereich.331

      In eine Studien- und eine Schausammlung aufgeteilt wurden 1936 die prähistorischen Bestände. Jahrzehnte später, um 1956, folgten weitere Umgestaltungen: Zwei neue externe Depots wurden dazugemietet, einige der magazinierten Bestände wurden in Studiensammlungen umgestaltet, und in manchen Ausstellungsräumen wurde die Objektzahl der präsentierten Sammlungsstücke in viel radikalerer Weise als Anfang der 1920er-Jahre verkleinert.332 Also waren die Kapazitätsgrenzen der Museumsmagazine am Schweizerischen Landesmuseum nicht erst ab den 1960er-/1970er-Jahren erreicht worden, wie Rebecca Sanders schreibt. Während des 20. Jahrhunderts stiess man mit der Sammlung immer wieder an räumliche Grenzen.333

      Zahlreiche historische Museen in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich wollten während des 20. Jahrhunderts immer weniger Dinge ausstellen und dafür im Bereich der Depots stetig expandieren.334 Gemäss der Studie von Paolo Fumagalli, der die Raumaufteilung von Museen ermittelte, nahmen die Ausstellungsräume im 19. Jahrhundert neunmal mehr Platz ein als alle übrigen Räume (Depot, Werkstatt, Vortrags- und Lesesäle, Verwaltungsräume). Ende der 1990er-Jahre nahmen sie noch halb so viel Platz ein wie alle übrigen Räume. Dabei wurden letztere nun auch für vielfältige neue publikumsbezogene Serviceleistungen benutzt.335 Aber der Wunsch nach grösseren Ausstellungsflächen verschwand damit keineswegs. Viele Museen schufen Erweiterungs- und Neubauten für ihre wachsenden Sammlungen.336 Für das Schweizerische Landesmuseum wurden während des 20. und 21. Jahrhunderts immer wieder neue Varianten von Erweiterungsbauten geplant, ohne dass es zu einer Realisierung kam.337 Dagegen kümmerte man sich um eine gute Infrastruktur zur Aufbewahrung der unausgestellten Dinge: Die verstreuten Depots, zuletzt sieben an der Zahl, wurden zugunsten eines zentralen Depots in Affoltern am Albis aufgehoben. Ein ehemaliges Zeughaus wurde dafür umgebaut und 2007 unter dem Namen «Sammlungszentrum» eröffnet.338 Zu Beginn des neuen Jahrtausends verfügte das Landesmuseum über ein hochprofessionelles externes Objektdepot im «Sammlungszentrum» in Affoltern am Albis. Folglich waren im Bereich der Depots mehr Neuerungen möglich als in den Ausstellungsräumen des ikonenhaften Museumsbaus.

      Das Sammlungszentrum kann als vorläufiger Höhepunkt der Entwicklungen verstanden werden, die sich nach 1900 bei den Mengenverhältnissen im Sammlungsbestand des Landesmuseums abzuzeichnen begannen und sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts massiv verstärkten: Wenige ausgestellte Dinge standen vielen weggestellten Sammlungsstücken gegenüber. Tausende, später Hunderttausende von Sammlungsobjekten blieben für die Museumsbesuchenden unsichtbar. Für einen Teil der Museumsangestellten hingegen waren sie als materielle Tatsachen stets präsent.

Forschen

      Die Einführung von Nachweisakten 1937

      In der Zwischenkriegszeit professionalisierte und differenzierte sich der Handel mit Kunst und Kunsthandwerk in der Schweiz und in den umliegenden Ländern zunehmend.1 Die Museumsvertreter waren verunsichert über dieses neue Marktumfeld. Sie zweifelten, ob ihre eigene Urteilsfähigkeit und Fachkompetenz noch ausreichte. Konnten sie den Wert eines Objekts adäquat beurteilen? Waren ihre Ankäufe auch echt und die Objekte, die sie erwarben, in materiell gutem Zustand? Bislang hatten die Museumskonservatoren bei den Erwerbungen auf ihren Kennerblick vertraut, den sie dank der akademischen Schulung oder einem langjährigen Selbststudium und der beständigen Anschauung von Objekten im Sammlungsalltag erlangt hatten. Zudem vertrauten sie auf die Beziehungen zu den wohlbekannten Objektbesitzerinnen und -besitzern sowie zu den Händlern, die ihnen qualitätsvolle Objekte garantierten. Aber nun war der Kreis der Händler grösser und unüberschaubarer geworden im sich kommerzialisierenden Handel. Es war von Fälschungen zu hören, die auf dem Markt zirkulierten. Die Museumsvertreter begannen an der dauerhaften Gültigkeit ihrer Urteile zu zweifeln.2

      Der Wandel in der Erwerbungspraxis von Sammlungsstücken war wesentlich dafür verantwortlich, dass sich ein neuer Wissensanspruch im Museumswesen entwickelte. Am Landesmuseum manifestierte sich dies exemplarisch in der Einführung einer neuen Dokumentationsform. Ab 1937 wurden zu wichtigen Sammlungsgegenständen Akten angelegt, in denen der neue Direktor, Fritz Gysin, alle «Angaben über Herkunft, Schicksal, Restaurierung, Publikationen usw.»3 eines Sammlungsstückes festgehalten haben wollte. «Nachweisakten» wurde die Dokumentationsform genannt. Dabei handelte es sich um Inventare mit historisch-genealogischen Angaben über die Objekte. Beim Erwerb von Objekten wollte man neuerdings einerseits wissen, wo ein Stück herkam und welche bisherigen Handwechsel es gegeben hatte. Andererseits wollte man seinen materiellen Zustand und allfällige frühere Restaurierungs- und Konservierungsmassnahmen kennen.

      Die Museumsmitarbeiter, welche am Landesmuseum mit der Erwerbung, Inventarisierung und Ausstellung betraut waren, hatten in der Regel eine Ausbildung in Kunstgeschichte oder Ur- und Frühgeschichte. Sie wurden Konservatoren genannt. Während die Konservatoren bezüglich der Herkunft von Objekten selbst nachzuforschen begannen und ihre Ergebnisse dokumentierten, waren sie in Bezug auf Fragen der Objektmaterialität auf fremde Hilfe angewiesen. Sie sahen die entscheidende Hilfestellung zur Überprüfung der Qualität der Objekte ausserhalb ihrer Disziplinen.4 Wie ihre Kollegen an anderen Museen auch, setzten die Mitarbeiter des Schweizerischen Landesmuseums grosse Hoffnungen in die neu entwickelten Techniken und Methoden aus Chemie und Physik und versprachen sich von ihnen neue fundierte Gewissheiten über die Echtheit von Altertümern. Aber erst in der Nachkriegszeit wurde der gewünschte Infrastrukturausbau für chemische und physikalische Untersuchungsmethoden am Landesmuseum realisiert und der technische Unterhalt der Objekte professionalisiert, indem ausgebildete Restauratoren angestellt werden konnten.

      Unter dem Titel «Forschen» legt dieses Kapitel das Augenmerk auf die Suche nach neuen Erkenntnissen am Landesmuseum im Zeitraum zwischen 1930 und 1970. Es war eine vielfältige Forschungspraxis, die von der Neuerfassung bestimmter Wissensbestände (Echtheit und Herkunft der Objekte) über die anwendungsorientierte Restaurierungs- und Konservierungsforschung bis zur Grundlagenforschung reichte. Die vier Forschungsjahrzehnte am Landesmuseum weisen einige Merkmale auf, die für die Forschung in der Schweiz zu der Zeit typisch