Fast hätte sich 1915 am wasserwirtschaftlichen Modell eine Debatte über die inhaltliche Ausrichtung der staatlichen Sammlung entzündet, aber nur fast. Schliesslich überwogen die Stimmen, die für eine Fortsetzung der bisherigen Sammlungspolitik plädierten und damit für eine Sammlung von Objekten, die fern der industriellen Produktion standen.166 Erklären lässt sich dies mit der starken personellen Kontinuität innerhalb der Museumsbehörden und einem ebenso beständigen Wertekanon, den die Politik letztlich nicht in Frage stellte. Vertreter der Museumsbehörden aus der Gründungszeit des Landesmuseums blieben über mehrere Jahrzehnte für dieses tätig. Sie bildeten eine einflussreiche Gruppe von Männern, die miteinander Bildungsweg und Bildungsgut teilten, berufliche, freundschaftliche und/oder verwandtschaftliche Beziehungen pflegten, in verschiedenen Gremien für den Kulturgüterschutz in der Schweiz engagiert waren (z.B. Denkmalpflege, Denkmal-Inventarisation, Gottfried-Keller-Stiftung) und in enger Verbindung zur kunstgeschichtlichen akademischen Lehre standen. Augenfällig wird die Kontinuität besonders bei der Museumsdirektion, die zwar in der Kommission des Landesmuseums kein Stimmrecht hatte, welcher aber in der Vorberatung der Geschäfte eine absolut zentrale Bedeutung zukam.
Hans Lehmann, der zweite Direktor des Landesmuseums, war 1896 als wissenschaftlicher Assistent des ersten Direktors, Heinrich Angst, angestellt worden. Zuvor hatte er, nach dem Studium der Kunstgeschichte und der Germanistik in Basel und Leipzig, als Bezirksschullehrer im Aargau unterrichtet. Seine Assistenz wurde 1903 in die Stelle eines Vizedirektors umgewandelt, und als Angst ein Jahr später zurücktrat, übertrug der Bundesrat Lehmann die Gesamtleitung des Museums.167
Der «Kontinuitätsfaden» lässt sich indessen noch weiterspinnen: Heinrich Angst trat nach seinem Rücktritt als Direktor nicht einfach in den Ruhestand, sondern wurde Mitglied der Landesmuseumskommission und bestimmte so die Geschäfte weiterhin mit.168 Auch pflegte er geschäftliche Beziehungen mit dem Landesmuseum: Wenn er «grössere Barmittel»169 brauchte, verkaufte er ihm Objekte aus seiner Privatsammlung, die teilweise bereits als Depositen im Landesmuseum ausgestellt waren. Er hatte vor seiner Direktorenzeit eine Privatsammlung anzulegen begonnen, als er noch als Kaufmann für ein Textilhaus gearbeitet hatte.170 Aus heutiger Perspektive erscheinen diese Verkäufe als eine höchst problematische Vermischung privater und öffentlicher Interessen. Damals aber bewunderte man Angsts kaufmännisches Geschick im Handeln mit Altertümern und seine Kenntnisse des Kunstmarkts. Ihretwegen war er denn auch zum Direktor ernannt worden. Das Tempo, mit dem er seine eigene Sammlung vergrösserte, wie auch sein Engagement für ein Nationalmuseum hatten zahlreiche Parlamentarier beeindruckt.171 Nur als Angst nach seinem Rücktritt als Direktor die Zahlungsmodalitäten diktieren wollte, kam es innerhalb der Museumskommission zu Unstimmigkeiten. Angst verkündete daraufhin verärgert, er werde künftig keine Kaufgeschäfte mehr vermitteln zwischen dem Landesmuseum und seinen früheren Geschäftspartnern. Zudem begann er als Kaufkonkurrent des Landesmuseums aufzutreten. Für seinen Nachfolger Lehmann bedeutete der Verlust der Kontakte Schwierigkeiten beim Erwerb von Sammlungsstücken. Doch die Geschäftsbeziehungen mit Angst wurden weiterhin gepflegt. Man kaufte von ihm Objekte bis zu seinem Tod im Jahr 1922.172
Die geschilderten Beziehungsnetze trugen dazu bei, dass die Museumsbehörden nicht für rasche Veränderungen sorgten. Noch 1924, beim vierten Vorstoss zur Raum-Menge-Problematik aus den eidgenössischen Räten, liessen die Museumsbehörden nach einigen Stellungnahmen und internen Besprechungen verlauten:
Abb. 13: Hans Lehmann und Josef Zemp (rechts), Schweizerisches Landesmuseum Zürich, ohne Jahr, SNM Dig. 28921.
«Man fand jedoch die Sache nicht wichtig genug, um sie im Schosse der Landesmuseums-Kommission neuerdings zu behandeln.»173
Das Parlament verlangte indessen auch keine vermehrte Mitbestimmung.174 Es gelang den Museumsbehörden dank ihrem Renommee, das in den 1890er-Jahren zentralistisch aufgebaute staatliche Museum gegen die vielfältigen Bedenken Anfang des 20. Jahrhunderts zu verteidigen.
Kein Einfluss auf den Geschenkfluss
Ein Bereich aber lag bis zu einem gewissen Grad ausserhalb der Deutungshoheit der Museumsbehörden: die Objekte, die durch Schenkungen oder sogenannte «En-bloc-Ankäufe»175 in das Landesmuseum kamen. Mit En-bloc-Ankäufen wurden Sammlungen oder Objektgruppen bezeichnet, die als Einheit zum Kauf angeboten wurden. Dabei musste der angebotene Gesamtbestand erworben werden, auch wenn sich ein Interessent nur für ein Stück begeistern konnte.176 Die Museumsbehörden waren bereit zu solchen Geschäften, weil sie den üblichen Handelspraktiken entsprachen.
Anders gelagert war der Fall der geschenkweise angebotenen Objekte. Noch bevor die Debatte über das Raum-Menge-Verhältnis 1915 im Nationalrat zum zweiten Mal lanciert wurde, äusserte der Präsident der Landesmuseumskommission, Eduard Vischer-Sarasin, in einer Kommissionssitzung, «dass es sich empfehlen dürfte, wenn die Direktion in Zukunft bei der Annahme von Geschenken für das Landesmuseum etwas strenger vorgehen und alles das refüsieren würde, was für dessen Sammlung kein Interesse besitzt».177 Und Roman Abt, ein in Kunstkommissionen und -vereinen engagierter Bahningenieur aus Luzern, ab 1911 Mitglied der Landesmuseumskommission, 178 glaubte allein mit der Steuerung der Schenkungen erreichen zu können, dass im künftigen Erweiterungsbau «auch für nachfolgende Erwerbungen Raum bliebe».179
Die Geschenke wurden als Ursache für den Platzmangel angesehen, und Hans Lehmann wurde vorgeworfen, dafür mitverantwortlich zu sein. Gesetzlich war festgelegt worden, dass die Sammlung des Landesmuseums durch Ankäufe, Geschenke und Depositen geäufnet werden konnte.180 Die Museumskommission war es, welche über die Kauf- und Tauschofferten verfügte. Sie war zuständig für Objektankäufe bis zu einem Wert von 10 000 Franken; Ankäufe über 10 000 Franken mussten vom EDI genehmigt werden. Die Möglichkeiten des Direktors waren beschränkter: Ihm stand bloss ein jährlicher Ankaufskredit von 3000 Franken zur Verfügung.181 Geschenke anzunehmen oder abzulehnen lag nun aber allein im Ermessen der Direktion. Dass andere Museumsmitarbeiter mitentscheiden konnten, ist nicht anzunehmen, hatte Lehmann doch kaum je einmal Geschäfte delegiert.182 Doch sich um die Geschenke zu kümmern, bedeutete für den Direktor keine sehr grosse Handlungsfreiheit, denn bei der Annahme von Schenkungen galten andere Prinzipien als bei den Ankäufen. Schenkungen waren ein heikler Gabentausch, der verlangte, dass die Reputationsbedürfnisse und die emotionale Verfasstheit des Gegenübers berücksichtigt wurden. Bei der Entgegennahme von Geschenken müsse mit Vorsicht verfahren werden, «um nicht die Sympathien, die sich damit für das Museum bekunden, zu schmälern».183 Lehmann wollte Kränkungen unbedingt vermeiden, denn seiner Ansicht nach konnten durch Schenkungen wertvolle Dinge gesammelt werden, die sich käuflich nicht erwerben liessen, weil sie preislich für das Museum unerschwinglich waren oder gar nicht auf dem Kunstmarkt zirkulierten.184
Lehmann, so hat man den Eindruck, war bereit, auf gewisse Selektionen zu verzichten, um an wertvolle Objekte zu gelangen, und verteidigte daher seine Annahme von Geschenken bis zu einem gewissen Grad: Nach ihm waren die Donationen nicht nur quantitativ