Die Verkäufe zeigen, dass das Landesmuseum keine ökonomiefreie Zone war, wie Pomian es pauschal für die Museumswelt behauptet. Die materiellen Ressourcen, die dem Landesmuseum zur Verfügung standen, spielten eine entscheidende Rolle für die Zusammensetzung der Sammlungen.248 Pomians Modell eines marktfernen Museums ist mehr Ausdruck eines herrschenden Ideals seiner eigenen Zeit, als dass es die Museumsrealität des gesamten 20. Jahrhunderts beschreiben würde. Die Sammlungsstücke verfügten über vielfache Bedeutungen, und eine Komponente der Bedeutung war die gewerblich-wirtschaftliche. Es kann sogar von einem Marktdenken gesprochen werden: Wenngleich nicht erwartet wurde, dass das Landesmuseum wirtschaftlich produktiv ist, 249 so war die Direktion doch sehr darauf bedacht, dass das Landesmuseum bei all seinen Transaktionen «Gewinne» erzielte. Eine «Gratisabgabe»250 von Objekten wollte man unter keinen Umständen. Die Sammlung in ihren verschiedenen Bestandteilen wurde als staatliche Kapitalanlage angesehen. Das hatte der erste Museumsdirektor 1893 pointiert formuliert, als er den aktuellen Versicherungswert (537 157 Franken) der bisher erworbenen Altertümer angab und dazu meinte:
«Die Zeit wird lehren, dass diese Kapitalanlage in idealer, wissenschaftlicher und gewerblicher Hinsicht reichliche Zinsen tragen wird.»251
Ich komme nun auf die zweite Art von Kaufgeschäften zu sprechen. Es handelt sich um den Verkauf von Dingen, die zuerst als bleibender Wert für die Sammlung des Landesmuseums galten, dann aber umgewertet und zu Handelsgut erklärt wurden. Ein Beispiel dafür ist das ursprünglich zum Sammlungsbestand gehörende Zürcher Porzellan. So wurde 1912 die erste grosse «Doubletten-Auktion»252 mit Stücken aus den Sammlungen des Landesmuseums durchgeführt. Mehr als die Hälfte der versteigerten Gegenstände, 184 Stücke, waren Porzellanobjekte.253 Später folgten weitere Verkäufe und Tausche der «überflüssigen Depots von Zürcher Porzellan», 254 wie die Qualifizierung lautete. Das Zürcher Porzellan gehörte zum Herzstück von Heinrich Angsts privaten Sammlungsbemühungen. An der ersten Landesausstellung 1883, in der Abteilung «Alte Kunst», die Angst mitorganisieren half, konnte er auch Porzellan und Keramik aus seiner Sammlung präsentieren. Diese Ausstellung war nicht nur ein genereller Testlauf für die Publizität von Altertümern, sie wurde auch zum Motor ihrer Wertsteigerung. Als Angst Ende der 1870er-Jahre zu sammeln begonnen hatte, galt das Zürcher Porzellan noch nicht als sammelnswert; nun war es zum Sammlungsgut avanciert. Als Angst dann Museumsdirektor wurde, wertete er seine Porzellansammlung gleich selbst auf, indem er sie zum unabdingbaren Grundstock der Sammlung des Landesmuseums erklärte.255
Wie die Wertsteigerung des Zürcher Porzellans Ende des 19. Jahrhunderts scheint auch dessen Wertverlust mit der Person von Angst eng verbunden gewesen zu sein: Als sich Angst vom Museumsbetrieb distanzierte, befand sein Nachfolger Hans Lehmann, Teile von Angsts Lieblingsbeständen seien entbehrlich. Bei der ersten Auktion war es noch Angst, der als Mitglied der Landesmuseumskommission die Stücke für den Verkauf auswählte.256 Die Preise bestimmte die Firma, die die Auktion organisierte – viel zu tief, wie Angst fand.257 Ein Jahr vor seinem Tod, 1921, wurden Teile der Porzellanbestände aus dem Ausstellungsraum des Landesmuseums entfernt: Man ging daran, «sehr zahlreiches, mehrfach vorhandenes Material auszuscheiden und dadurch eine Überladung der Glasschränke zu steuern».258 Der Moment der Neubeurteilung und Neuordnung wurde «zur Komplettierung der Sammlungen durch neu erworbene wertvolle Stücke»259 genutzt.260 Auch hier zeigt sich, dass das Museum wirtschaftlich agierte: Was aussortiert wurde, war nicht wertlos, sondern von neuem, monetärem Wert. Das Zuviel wurde damit zu einer Kapitalanlage. Der Verkauf war kein Mittel zur Verkleinerung der Menge, sondern zur Verbesserung ihrer Zusammensetzung.
Das Urteil über die für «entbehrlich»261 erklärten Dinge lautete oft: Es handle sich um «gleichartige[s] Material», 262 «Doubletten», 263 folglich um mehrfach vorhandene, gleiche Dinge. Von diesen Dingen wurde dementsprechend auch im Plural gesprochen («Doubletten», nicht «Doublette»). Überzählig war das, was nicht einzigartig, sondern gleichartig war. Es hatte keinen Sammlungswert, aber einen Handelswert. Mit diesem Urteil widersprachen die Museumsbehörden aber gleich in zweifacher Hinsicht ihrem andernorts formulierten Wertesystem: Zum einen gab es nach ihrem Wertesystem eigentlich gar keine Objekte «mehrfach». Zum anderen wurden die bisher gesammelten Dinge als massgebend für die aktuelle Praxis angesehen und entsprechend geachtet.
Zum ersten Widerspruch: Das Landesmuseum sammelte Objekte aus der vorindustriellen Zeit. Das hiess, man ging davon aus, dass «auf dem ganzen Gebiete des Kunstgewerbes früherer Zeiten genau gleiche Objekte nicht erstellt wurden, soweit es sich nicht um Erzeugnisse des Metallgusses oder um mit Hülfe von Modeln und dergleichen hergestellte Gegenstände handelt».264 Trotzdem sprach man von «Gleichartige[m]»: Beim Kauf und Verkauf gelte das Prinzip, «Gleichartiges nur in besseren Exemplaren zu erwerben mit der Absicht, das Minderwertige abzustossen, um so die Sammlungen in ihrer Qualität zu heben, ohne sie überflüssigerweise auszudehnen».265 Die Qualität der Sammlung sollte also dadurch verbessert werden, dass Dinge ersetzt wurden – mit dem Zusatz, dass die Sammlung so nicht vergrössert werde, half man gleich noch, die allgemeinen Bedenken zu verringern. Schwierig ist die gewählte Begrifflichkeit: Wie kann ein Objekt «gleichartig» und doch auch «besser» sein als ein anderes Stück? Eine eigentliche Erklärung dafür findet sich nicht, aber viele widersprüchliche Antworten. Lehmann meinte, man wolle nicht auf die Frage eintreten, «was überhaupt in einer Altertumssammlung als Doublette bezeichnet werden könne, sondern nur bemerken, dass Doubletten in einer Sammlung jedenfalls nur ganz ausnahmsweise wertvolle Objekte sind».266 Indem jedoch vom Wertvollen respektive Wertlosen gesprochen wurde, machte man implizit deutlich, dass es letztlich um eine Bewertungsfrage ging.267 Und da die Museumsbehörden die entsprechende Deutungshoheit besassen, war die Sache damit vom Tisch.
Zum zweiten Widerspruch: Die Verkäufe wurden so dargestellt, als ob die weggegebenen Dinge nie einen Sammelwert besessen hätten. Sie galten aber früher einmal als wertvoll