Wie das erste Teilkapitel («Debatte über die Mengenbildung») zeigen wird, wurden die Grundsatzdebatten über die Sammlungspraxis und die Ziele des Landesmuseums während der 1910er- und 1920er-Jahre von der Vorstellung geprägt, dass die gesamte Sammlung dem Museumspublikum in den Ausstellungsräumen gezeigt werden müsse. Ich werde darlegen, wie man mit der wachsenden Menge von Objekten verfuhr und welche Personenkreise dabei die Deutungshoheit über die Objektmenge innehatten.
Nachdem der Museumsbau errichtet war, wurde die hauptsächliche Energie in die Betreuung und Verwaltung der Sammlung abseits der Ausstellungsräume gesteckt. Diese Tätigkeiten scheinen zunächst von den Debatten über den Platzmangel nicht berührt zu werden. Doch wie ich im Kapitel «Handhabung der Fülle» darlegen werde, eröffneten sich gerade fern der Ausstellungsräume neue Handlungsspielräume innerhalb des Museums. Als Wendepunkt in der Mengenfrage erscheint das Jahr 1928. Damals, fast 20 Jahre nach den ersten grösseren Diskussionen, kam es zu gewichtigen Entscheidungen: Die Museumsbehörden beschlossen, gewisse Sammlungen wegzugeben und andere nicht mehr weiter auszubauen.
Abschliessend werde ich im Kapitel «Blick auf spätere Mengenverhältnisse» die Thematik des Anhäufens rekapitulieren. Zur Akzentuierung der Forschungsergebnisse für die 1910er- und 1920er-Jahre skizziere ich zugleich die späteren Mengenverhältnisse während des 20. Jahrhunderts, als die Menge der unausgestellten Objekte im Verlauf des 20. Jahrhunderts weiter anschwoll.
Debatte über die Mengenbildung
Parlamentarier, Museumsbehörden und Angehörige anderer Kulturinstitutionen ärgern sich darüber, dass Sammlungsstücke im Keller und Estrich des Landesmuseums eingelagert werden mussten.60 Sie waren sich einig, dass die Hauptaufgabe dieses Museums darin liege, seine Sammlungsobjekte in den Ausstellungsräumen sichtbar zu präsentieren und nicht unausgestellt in Depoträumen einzulagern. Zahlreich sind die Belege für den hohen Stellenwert, der dem Ausstellen von Objekten beigemessen wurde. «Der erste Zweck ist nicht das Einpacken, sondern das Auspacken der Gegenstände», 61 meinte Nationalrat Karl Emil Wild 1919.62 Die Besichtigungen des Museums (1910, 1915, 1919, 1924 und 1927) bewog die Vertreter der Politik immer wieder dazu, parlamentarische Vorstösse einzureichen und Lösungsvorschläge zu unterbreiten.
Objekterwerbung und -präsentation wurden als zusammengehörig verstanden. Jedes erworbene Stück sollte im Ausstellungsraum zu sehen sein, an einem eigens dafür vorgesehenen Platz. Das Gesammelte wurde als Einheit mit seinem Präsentationsraum gedacht. Diese statische Idee stand in Konflikt mit der dynamischen Objektmenge, die durch die getätigten Erwerbungen und Schenkungen stetig grösser wurde. Die Ursachen für diese Raum-Menge-Problematik sind in bestimmten Auffassungen vom Wesen des Museums begründet, wie sie für das 19. Jahrhundert zentral waren und es darüber hinaus bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein blieben. Aber auch gewisse Machtkonstellationen waren dafür verantwortlich: Zwar lancierten die Parlamentarier die Debatten und bestimmten den Ausgabeetat, aber die Museumsbehörden hatten die Deutungshoheit und die Entscheidungsmacht über die Sammlungseingänge und ihre Zusammensetzung. Ausserhalb ihrer Macht lagen nur die Objekte, die dem Museum zum Geschenk gemacht wurden.
Die enge Verschränkung von Objekterwerbung und -präsentation
1890 beschloss die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft die Gründung und den Bau eines Nationalmuseums. Mit ihrem Entschluss, einen Bau zu errichten, brachte sie ein statisches Moment in die laufenden Sammlungstätigkeiten.63 Bisher hatte der Museumsbau an zweiter Stelle der Förderung auf Bundesebene gestanden: An erster Stelle kam die staatliche Erwerbung von Objekten. Nach zwei erfolglosen Versuchen (1799 und 1880), ein Nationalmuseum zu realisieren, wurde 1884 als erster staatlicher Akt für 60 000 Franken eine Sammlung prähistorischer Objekte erworben. Darauf folgend beschlossen die eidgenössischen Räte 1886, für weitere Ankäufe einen «Altertümerkredit» einzurichten in der Höhe von 50 000 Franken. Ganz im Sinn der föderalistischen Kräfte wurde der Kredit für zwei Aufgaben eingesetzt: zum Aufbau der bundesstaatlichen Sammlung und zur gezielten finanziellen Unterstützung der Kantone bei ihren Sammlungsbestrebungen. Die Frage, inwiefern der Kredit ein Schritt in Richtung Schaffung eines Nationalmuseums sei, wurde in den Räten zwar diskutiert, blieb aber vorläufig unbeantwortet. Daher wurden die erworbenen Objekte provisorisch «auf neutralem Territorium», 64 in den ehemaligen Archivräumen des Bundesratshauses, aufgestellt.65 Der Bund delegierte die Frage der Schaffung eines Nationalmuseums auf elegante Weise an die Kantone und stachelte deren Ehrgeiz an, indem er sie aufforderte, einen passenden kantonalen Bau und einen bedeutenden Sammlungsgrundstock als Ausgangspunkt für ein Nationalmuseum vorzuschlagen. Basel, Bern, Luzern und Zürich bewarben sich als Museumssitz; Zürich erhielt dann den Zuschlag.
1890 war die Errichtung eines Nationalmuseums beschlossen. Von da weg wurde die staatliche Aufgabe der Erwerbung und Bewahrung von Objekten in starker Abhängigkeit vom dafür geschaffenen Museumsbau und seinen Ausstellungsräumen gesehen. Sie wurden zur entscheidenden Bezugsgrösse für die Sammlung.66 Für die Museumsverantwortlichen wurde es zum Programm, durch das Zeigen von Dingen Wissen zu vermitteln. Das Publikum sollte sich durch die Betrachtung der Objekte im Ausstellungsraum bilden können.67 Was zählte, war die Objektpräsentation im Museumsraum.
Das Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Präsentationskonzept prägte die Sammlungspraxis des Landesmuseums in den folgenden Jahrzehnten entscheidend. Im Wettbewerbsprogramm für den Museumsbau, also in der Planungsgrundlage für die Städte, die sich um den Sitz des Museums bewerben wollten, wurde der enge Bezug von Sammlung und Ausstellungsraum propagiert. Das Museumsgebäude wurde als Behälter verstanden, um die Sammlungsstücke zu zeigen. Ziel war es, die Sammlung und das Museumsgebäude als ein über Jahrhunderte herangewachsenes Ensemble darzustellen. Man wollte die gesammelten Gegenstände «so weit wie möglich in ihre ursprüngliche Umgebung»68 zurückversetzt präsentieren: die Waffen in einer zeughausähnlichen, grossen Halle, die Kleinodien in einer Schatzkammer und so weiter.69 Es wurde festgelegt, welche Sammlungen wie viele Quadratmeter Raum im Museumsgebäude erhalten sollten.70 Und für jeden Gegenstand sollte in einer bestimmten Sammlungsabteilung «die genaue Stelle»71 im Raum bestimmt werden. Ein solches Konzept verlangte nicht nur nach einem genau bemessenen Raum, sondern auch nach einer berechenbaren Objektmenge. Beides fehlte. Die Realisation des Ensembles aus Bau und Sammlungsstücken wurde zum Problem, wie auch seine Handhabe im Sammlungsalltag.
Der Bau des Landesmuseums wurde unter der Leitung des Architekten Gustav Gull errichtet, zusammen mit dem Gebäude für die Kunstgewerbeschule der Stadt Zürich, das auf dem gleichen Gelände zu stehen kam.72 Als mit Bauen begonnen wurde, wusste niemand genau, welche Sammlungsstücke in das Landesmuseum kommen sollten, denn die Sammlung befand sich erst im Aufbau. Wenn auch die bereits vom Bund erworbenen Gegenstände und die Objekte, die der Museumsstandort Zürich beizusteuern hatte, bekannt waren, kamen doch stets neue Stücke hinzu. Das Landesmuseum wurde auf der Basis eines groben Ausstellungskonzepts gebaut, ohne dass detaillierte Entwürfe der Museumsarchitektur vorlagen. Die fehlende Planungsgrundlage in Verbindung mit dem Anspruch einer engen Verschränkung von Gebäude und Sammlung führte während des Bauprozesses zu Kompetenzstreitigkeiten und Reibereien zwischen der Bauleitung und den Museumsbehörden. Aus diesem Grund verzögerte sich das Bauvorhaben.73
Die Schwierigkeit, ein Ensemble von Sammlung und Museumsbau zu realisieren, machte sich besonders deutlich bemerkbar bei den «bauliche[n] Altertümer[n]», 74 die als verbindendes Element zwischen Sammlungsstücken und Museumsarchitektur direkt in das Gebäude eingesetzt wurden.75 Während des Baus