Auf ihrem Rundgang gelangten die Besucherinnen und Besucher schliesslich im Obergeschoss in den 50. Saal, die 700 Quadratmeter grosse Waffenhalle, auch Ruhmeshalle genannt, wo die zürcherischen Zeughausbestände präsentiert wurden (Abb. 10). Zum Museumsausgang/-eingang kehrte man durch die Uniformenausstellung, einen Korridor mit Glasmalereien entlang und die Treppe hinunter zurück in das Erdgeschoss.
Ganz so streng chronologisch war die Raumabfolge nicht: Auf die historischen Zimmer und Sammlungsräume aus dem 17. und 18. Jahrhundert (Raum 43–48) kamen die «Volks- und Bürgertrachten» des 17. bis 19. Jahrhundert, gefolgt von der Waffenhalle mit Objekten aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert.39 Zudem gab es Objektgruppen, die sich nicht in die von de Capitani beschriebenen drei Themenfelder (Pfahlbauer, Kunst und Krieg im Spätmittelalter und der Frühneuzeit) und in die Chronologie einfügen liessen. Erwerbungen mussten kurzfristig in improvisierten Ausstellungsräumen untergebracht werden. Beispielsweise wurde die «überraschend schnell angewachsene Uniformen-Sammlung»40 in dem zum Ausstellungssaal umfunktionierten Sitzungszimmer der Landesmuseumskommission aufgestellt.41
Nach der Eröffnung des Museums wurden auch noch im dritten Stock Räume für die Ausstellung ausgebaut und hier die ländlichen Trachten präsentiert sowie im zugehörigen Treppenhaus und Vorraum Möbel und Gegenstände aus dem 18. Jahrhundert.42 Um Raum für mehr Objekte zu gewinnen, wurden die Skulpturen dichter aufgestellt.43 Und weil in den Sammlungssälen kein Platz mehr vorhanden war, wurden auch in die historischen Zimmer weitere Sammlungsstücke und Vitrinen mit Objekten hineingezwängt, obwohl es laut der Direktion «dem Charakter und der einheitlichen Stimmung eines alten Wohnraumes»44 widersprochen hat. Ein Beispiel dafür war die Ratsstube aus Mellingen, wo die Direktion 1906 als ungeliebtes Provisorium «voluminös[e] und sperrig[e]»45 Stücke wie gotische Schränke und Truhen hineinstellte (Abb. 12).
Mit der Sammlung des Bundes war es anders gekommen, als man sich vorgestellt hatte: Die Menge der Objekte, die in die Sammlung Eingang fanden, war grösser als angenommen. Manifest wurde dies in den Räumen des Museumsgebäudes, das zur Aufbewahrung der Sammlung errichtet worden war. Bereits im ersten Jahrzehnt waren Objekte auch in den Kellerräumen des Museums provisorisch eingelagert worden und ab 1903 mehr und mehr auch im Dachgeschoss. Ja sie wurden regelrecht aufgestapelt: In die Türme des Landesmuseums, die bisher nur als Architekturschmuck funktioniert hatten und innen hohl waren, wurden Böden und Treppen eingezogen und im Hauptturm beispielsweise die unausgestellten Trachten und Uniformen eingelagert.46 Zehn Jahre nach der Eröffnung des Museums waren zwei Drittel der Sammlung nicht ausgestellt.47 Das war für die Verantwortlichen ein unhaltbarer Zustand. Der Nachfolger von Heinrich Angst, Hans Lehmann, rechnete 1906 vor, dass gegenwärtig 4624 Quadratmeter Ausstellungsfläche zur Verfügung stünden. Rund 3200 Quadratmeter mehr wären nötig. Daher sei ein Erweiterungsbau unabdingbar.48
Auch Bundesbern blieb der Zustand nicht verborgen: Die Bundesorgane kamen in erster Linie bei der Finanzkontrolle mit dem Betrieb des Schweizerischen Landesmuseums in Kontakt. Eine Sektion der Finanzdelegation der Eidgenössischen Räte suchte das Museum jeweils auf, um die Kassenrevisionen vorzunehmen und die Buchhaltung zu kontrollieren. 1910 blieb es nicht beim üblichen Protokoll. Der Präsident der Finanzdelegation der eidgenössischen Räte, Arthur Eugster, verfasste einen Brief an das Departement des Innern (EDI), der über die gewöhnliche Finanzanalyse hinausging.49 Arthur Eugster schrieb:
Abb. 7: Plan Erdgeschoss, in: Hans Lehmann: Offizieller Führer durch das Schweiz. Landesmuseum, 2. vermehrte Auflage, Zürich 1900, SNM Scan.
Abb. 8: Plan erste Etage, in: Hans Lehmann: Offizieller Führer durch das Schweiz. Landesmuseum, 2. vermehrte Auflage, Zürich 1900, SNM Scan.
Abb. 9: Winterthurer Keramik, Eckraum Nr. 48, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, ohne Jahr, SNM, Dig. 28842.
Abb. 10: Ruhmeshalle, Raum 50, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Fotograf: E.Link, Aufnahme vor 1918, SNM Dig. 28851.
Abb. 11: Ratsaal aus Mellingen, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Postkarte, um 1898, Nr. 2848, in Besitz von Anna Joss, Scan.
Abb. 12: Rathaussaal von Mellingen (1467), Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Raum 14, in: Führer durch das Schweizerische Landesmuseum in Zürich, hg. v.d. Direktion, Zürich 1929, SNM Scan.
«Es herrscht ein empfindlicher Platzmangel, so dass Kellerräume und Estrich zur Aufbewahrung von Altertümern benutzt werden müssen.»50
Deshalb seien baldmöglichst Massnahmen zu ergreifen bei der «Unterbringung & Beschaffung der Inventargegenstände».51 Der empfundene Raummangel mündete in eine Grundsatzdebatte über die Sammlungspraxis und die Ziele des Landesmuseums während der 1910er- und 1920er-Jahre und war der Auslöser für bleibende Veränderungen in der Sammlungstätigkeit des Museums.
Die Diskussionen und Handlungen rund um die Sammlungsmenge sind Gegenstand dieses Kapitels. Der Titel «anhäufen» bezieht sich auf drei Merkmale, die für die damalige Sammlungspraxis charakteristisch sind: Erstens drehten sich die damaligen Museumspraktiken weniger um Einzelstücke, die Eigenheiten einzelner und einzigartiger Objekte. Vielmehr ging es um den Umgang mit einem Haufen von Dingen und die Handhabung einer Menge Dinge: Die Sammlungstätigkeit wurde von der Quantität der Dinge dominiert und der Wirkung der Sammlungsstücke in ihrem «Vielsein».52 Der zweite Aspekt, welcher der Begriff «anhäufen» betont, ist das Zusammentragen der Dinge an einem Ort, die Zentriertheit der Handlungen. Die vom Bund erworbenen Objekte wurden vereinigt und zu einer Sammlung formiert, in einem eigens dafür gebauten Museumsgebäude in der Stadt Zürich. Gegen diese zentralisierte staatliche Sammlung traten die Anhänger des Föderalismus immer wieder an. Weiter war es die vorhandene Objektmenge, die in den 1910er- und 1920er-Jahren unter den Verantwortlichen zu einer ersten genealogischen Reflexion über das Sammeln führte und sie danach fragen liess, wie es denn zu dieser Quantität kommen konnte. Das prozessuale Moment des Sammelns, das Grösserwerden und Wachsen der Sammlung durch das Zusammentragen von Dingen, ist denn auch der dritte Aspekt, der interessiert.53
Die Quantität der Dinge ist beim Sammeln ein essenzieller Faktor. Das zeigt sich bereits in der Tatsache, dass ein Ding noch keine Sammlung ausmacht. Erst ab zwei, besser ab drei oder mehr Dingen kann man von einer Sammlung sprechen.54 Die Quantität der Sammlungsstücke war in der Sammlungspraxis am Schweizerischen Landesmuseum ein wesentliches Qualitätsmerkmal. Wie wichtig die Darstellung der Menge für die Museumsleitung war, lässt sich bereits an den Listen in den Jahresberichten erkennen, die oft mehr als die Hälfte des gesamten Umfangs der Publikation bildeten.55 Erstaunlicherweise waren bisher in der Forschung zu öffentlich-staatlichen Sammlungen quantitative Aspekte kein eigener Untersuchungsgegenstand.56 Marginal thematisiert