Es gab kein schöneres Gefühl, als die unter mir trommelnden Hufe und den eisigen Wind zu spüren, der mir ins Gesicht fegte. Die verschneite Landschaft zog an mir vorbei und ich vergaß beinahe den eigentlichen Grund unseres Ritts. Wenn Dalibor galoppierte, glaubte ich, jeden Moment abheben zu können, als ob ihm unsichtbare Flügel wüchsen, die uns in den Himmel trügen. Diese Träume erlaubte ich mir allerdings nur für Sekunden. Im echten Leben war mir der schneebedeckte Boden unter den Füßen – oder Hufen – dann doch lieber.
Auch als wir den großen Schneewall erreichten, war Dalibor noch nicht außer Atem. Als wir am Dorf vorbeiritten, drosselte ich dennoch das Tempo. Ich musste vorsichtig sein, damit niemand auf mich aufmerksam wurde. So früh sah man allerdings tatsächlich selten jemanden unterwegs. Die Tage im Land des ewigen Schnees waren kurz, und bis die Sonne nicht am Himmel stand, herrschte die Kälte noch strenger als sonst.
Mit zusammengekniffenen Augen suchte ich die weite Landschaft vor mir nach anderen Reitern oder Fußgängern ab. Doch der Schnee auf den Feldern war unberührt. Der Weg vor mir erstreckte sich schnurgerade und menschenleer am Dorf vorbei, bevor er sich in etlichen Windungen durch die Hügellandschaft bis hin zum Kralshof zog.
Ich spornte Dalibor an, das letzte Stück des Weges noch ein bisschen zuzulegen. Die Turmuhr zeigte noch zehn Minuten bis zur vollen Stunde. Ich beugte mich vor und strich mit den Fingern aufmunternd über seinen Mähnenkamm. Manchmal stellte ich mir vor, wie es wäre, meine Hand an Dalibors schwarzes Ohr zu legen und die magischen Worte zu flüstern, die Ma mir verraten hatte. Die magischen Worte, die das Geheimnis der Eispferde waren. Doch dann rief ich mir jedes Mal in Erinnerung, was sie mir eingetrichtert hatte: Du darfst es nicht ausnutzen! Ich liebte die alte Legende, die Ma mir wieder und wieder erzählt hatte. Es sei kein Zufall gewesen, dass die Eispferde den verheerenden Schneesturm überlebt hatten, der unser Land vor langer Zeit in einen Kälteschock versetzt hatte. Vielmehr hätte es an der besonderen Kraft gelegen, die in ihnen schlummerte. Ich hörte Mas Worte so deutlich, als ob sie mich noch immer vor sich auf dem Pferderücken im Arm halten würde: »Vergiss nie, Ašleah, nur wenn zwei Herzen im Gleichtakt schlagen, kann sich der Zauber der Eispferde entfalten. Wenn du wirklich in Not bist und deinem Pferd die magischen Worte zurufst, dann wird es sein eigenes Leben riskieren, um deines zu retten.«
Ich spürte jetzt noch das Kribbeln, das mir bei ihrer Erzählung über den Nacken gehuscht war. Die Worte, die Ma mir beigebracht hatte, kannte ich auswendig. Aber ich wagte nicht einmal, sie zu flüstern, aus Angst, ich könnte versehentlich den Zauber heraufbeschwören.
Ich vergrub meine Hände in der Mähne. »Los, Dalibor! Ich weiß, dass du auch so der Schnellste bist.«
Der Hengst spitzte die Ohren, streckte seinen Körper und schoss nach vorn. Ich stellte mich in den Steigbügeln auf, um seinen Beinen mehr Bewegungsfreiheit zu geben. Seine Muskeln arbeiteten unter mir mit einer unermüdlichen Kraft. Dichte Atemwolken stiegen stoßweise aus seinen Nüstern, und er galoppierte so schnell wie der raue Wind, der über die Klippen fegte. Ich hatte mich lange nicht mehr so lebendig gefühlt.
Um genau eine Minute vor sieben trafen wir auf dem Kralshof ein. Der große Zeiger der Uhr über dem Eingangsportal bewegte sich in dem Augenblick auf die Zwölf, als ich den Türklopfer betätigte. Und fast zeitgleich öffnete Herr Kral selbst, als ob er schon auf mich gewartet hätte. Ich war nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen war.
Doch ein feines Lächeln umspielte seine ernsten Züge. »Es ist sieben Uhr.« Unnötig, das zu erwähnen, fand ich. »Ich bringe dich in den Stall und zeige dir, was deine heutige Aufgabe sein wird.«
Ich nickte, noch ganz außer Atem von dem schnellen Ritt.
Als er auf den Hof trat, runzelte Herr Kral die Stirn. »Ist das dein Pferd?«
»Ja«, antwortete ich stolz.
»Du solltest es versorgen, bevor du an die Arbeit gehst.«
»Nicht nötig. Es wird sich nicht von der Stelle rühren, bis ich wiederkomme«, erklärte ich.
Herr Kral blieb stehen und sah mich an. Sein Gesichtsausdruck zeigte Verärgerung, und ich bereute sofort, dass ich Dalibor hierhergebracht hatte. Ich hätte ihn besser im nahen Wald gelassen.
»Ein Pferd, das seinen Reiter treu ans Ziel gebracht hat, sollte immer zuerst versorgt werden, bevor man sich einer anderen Arbeit zuwendet. Diese Zeit muss sich jeder Reiter nehmen.« Sein Tonfall war streng.
Ich wusste nicht so recht, was ich darauf erwidern sollte, weil ich nicht meinen Job riskieren wollte. Ein Tadel zum Thema Pferdefürsorge war garantiert nicht der richtige Einstieg in meinen Probearbeitstag als Stallbursche.
»Das war keine Frage«, bemerkte Herr Kral, dem mein Zögern offenbar nicht entgangen war.
Ich schluckte. »Sie meinen, ich soll mein Pferd in Ihren Stall bringen?«
»Ich meine das nicht nur, sondern du wirst es auch tun. Und zwar jeden Morgen vor der Arbeit. Du wirst dir entsprechend mehr Zeit einplanen oder abends länger bleiben.«
»Na… natürlich«, stammelte ich.
Das fing ja gut an. Wahrscheinlich hatte ich mir jetzt schon seine Sympathie verscherzt.
Ich pfiff leise durch die Zähne. Dalibor hob den Kopf und schritt auf mich zu, während mich seine dunklen Augen aufmerksam beobachteten. Herr Kral betrachtete mein Pferd dabei eingehend, obwohl er sich sein Interesse nicht so deutlich anmerken ließ wie Dalibor. Mit klammen Fingern ergriff ich die Zügel und folgte dem Gutsherrn in den Stall.
Meine Augen weiteten sich vor Staunen, als ich durch das Tor trat. Bestimmt dreißig Boxen – dreimal so groß wie Dalibors auf dem Sturmhof – reihten sich auf beiden Seiten der Stallgasse aneinander. Es gab sogar eine richtige Deckenbeleuchtung, was die Arbeit am frühen Morgen oder an düsteren, schneeverhangenen Tagen deutlich erleichtern würde. Der Stall sah sehr aufgeräumt und sauber aus. Auch zu Hause versuchte ich, immer alles in Ordnung zu halten, aber Novak gab nicht gerne Geld für Neuerungen aus. Alles, was ich reparierte, musste ich aufwendig zusammenbasteln, weshalb ich mit der Arbeit nie hinterher kam. Der Stall auf dem Sturmhof wirkte trotz meiner Mühen alt und heruntergekommen. Auf dem Kralshof hingegen erschienen mir die Boxen fast gemütlicher als unser Wohnzimmer.
Jedes Pferd, an dem wir vorbeigingen, hatte schneeweißes Fell, sehnige Beine und einen muskulösen, schlanken Körper – na ja, bis auf die Zuchtstuten, die man an ihren dicken Bäuchen erkannte. Bald war Fohlzeit. Jeder Züchter achtete penibel darauf, dass die Fohlen möglichst Mitte März zur Welt kamen, wenn das Schneefeuer den Frühling brachte, damit die ersten Lebensmonate von Wärme und grünem Gras begleitet wurden. Die Überlebenschancen waren dann deutlich höher. Den Fohlen, die später geboren wurden, fehlte oft genug die Kraft, um die langen und harten Wintermonate zu überstehen.
Mir fiel sofort auf, dass die Boxenbelegung nicht dem Zufall überlassen war. Links standen die Stuten und rechts die Hengste und Wallache. Natürlich eignete sich nicht jedes Pferd zur Zucht, und die Tiere verhielten sich viel verträglicher in einer gemischten Herde, wenn sie kastriert waren. Allerdings konnten sich nicht alle Pferdehalter die hohen Kosten der Kastration leisten. Das war auch der Grund, warum Dalibor noch immer ein Hengst war. Novak sah es nicht ein, dass er für mein Pferd zusätzlich Geld ausgeben sollte. Zwangsläufig hatte Dalibor gelernt, sich eher wie ein Wallach zu verhalten. Er war so lieb und folgsam, dass man ihm das Hengstsein absolut nicht anmerkte. Selbst in Gegenwart von Stuten verhielt er sich normalerweise anständig und ruhig. Hier in diesem neuen Stall allerdings spürte ich seine Nervosität wachsen. Die fremden Gerüche blähten seine Nüstern und sein Schritt auf dem gepflasterten Boden klang unruhiger als sonst.
»Heeey!«, flüsterte ich und strich ihm sanft über die Nüstern.
Herr Kral warf mir einen kurzen Seitenblick zu. »Du kannst ihn in diese Box stellen.« Er deutete auf ein freies Luxuswohnzimmer der Extraklasse. Der Begriff Box traf es nicht annähernd.
Ich