Ich wischte meine Tränen an seinem dichten Fell ab. Jeder Versuch, im Dorf eine Stelle zu finden, war eine Katastrophe gewesen. Besonders die Idee, bei Kalle nachzufragen – Schmied war natürlich genauso ein Männerjob wie Stallbursche. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Wie dumm von mir, dass ich gedacht hatte, Kalle würde mich einstellen!
Ein richtiges Mädchen war ich aber offenbar auch nicht, sonst hätten die Männer mich wohl kaum mit einem Jungen verwechselt. Ich musste an den Witz des Dicken denken, mich als Windstopper auf einem Gutshof zu bewerben. Aber zum Lachen war mir nicht zumute. Mir fiel die Zeitungsannonce vom Kralshof wieder ein. Stallburschen wurden auf den Zuchthöfen jetzt überall gesucht, so kurz vor dem großen Rennen. Was hätte ich dafür gegeben, ein Junge zu sein und einfach das zu tun, wozu ich Lust hatte!
Gedankenverloren ließ ich ein paar Strähnen meiner Locken durch meine Finger gleiten. Musste man nicht größere Opfer bringen, wenn einem etwas wichtig erschien? Ma hatte immer zu mir gesagt: »Manche Chancen im Leben ergeben sich nur ein einziges Mal. Aber du wirst es fühlen, ob der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um sie zu ergreifen.«
Vielleicht war dieser Zeitpunkt ja nun gekommen? Ich hob den Kopf. Mein Blick streifte das kleine Fenster über Dalibors Box, in dem sich mein Gesicht im schwachen Schein der Stallbeleuchtung spiegelte. Nachdenklich schaute ich in Dalibors dunkle Augen. Und plötzlich wusste ich, was ich tun musste.
Ich huschte durch den Stall zu dem Schrank, in dem ich das Werkzeug aufbewahrte. Nach kurzer Suche fand ich die Schere und flitzte zurück in Dalibors Box, schob mein Pferd etwas beiseite und stellte mich auf die Zehenspitzen. Ungeachtet des erschrockenen Blicks, den mir mein Spiegelbild im Stallfenster entgegenwarf, umfasste ich mit der freien Hand meinen Zopf.
Und schnitt ihn einfach ab.
Kapitel 3
Immergrün
Vorsichtig öffnete ich Jiris Zimmertür und schlich zu seinem Schrank. Zum Glück wusste ich genau, dass das linke Scharnier beim Öffnen quietschte und an welcher Stelle die Dielen knarzten – das war der Vorteil davon, dass ich die gesamte Hausarbeit allein erledigte. Aber den regelmäßigen Atemzügen nach zu urteilen, schlief mein Stiefbruder ohnehin tief und fest. Ganz behutsam zog ich an dem Griff und öffnete so langsam wie möglich den Kleiderschrank. Ich suchte mir einen dunkelgrünen Thermopullover und eine schwarze Mütze heraus, die Jiri von Novak bekommen hatte, aber nie trug.
Nicht, dass meine übliche Kleidung besonders mädchenhaft gewesen wäre, aber ich wollte sichergehen, dass ich kein Detail übersehen hatte und man mich an meinem Outfit nicht erkennen konnte. Meine alten Hosen würden mich ebenfalls nicht verraten, und in der Waschkammer hatte ich ein paar ausrangierte Stiefel und eine Winterjacke von Jiri gefunden, die ihm längst zu klein geworden waren.
Mit klopfendem Herzen schloss ich die Schranktür und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer. Die Sonne war gerade hinter den Bergen aufgegangen, aber ich brauchte nicht zu befürchten, dass Novak mir über den Weg laufen würde. Er wusste, dass ich mich um die Pferde kümmerte und es für ihn keinen Grund gab, früh aufzustehen. Er würde sich erst wundern, wenn er in die Küche kam. Ich hatte meine Arbeiten für diesen Tag bereits in aller Frühe erledigt, damit mir niemand etwas vorwerfen konnte, falls ich später als geplant nach Hause kam.
Ich zog Jiris Sachen über, steckte Mas Reithandschuhe ein und ein Stück Brot vom Vortag als Proviant und verließ so leise wie möglich das Haus.
Im Stall schlug mir der vertraute Geruch nach Heu und Pferden entgegen. Ich verteilte die morgendlichen Rationen und sah zu, wie Dalibor auf seinem Frühstück kaute.
»Es hört sich zwar verrückt an«, murmelte ich, während ich mit den Fingern durch sein Fell fuhr, »aber weißt du, jede ungenutzte Möglichkeit ist ein Schritt in die falsche Richtung.« Das hätte Ma zumindest behauptet.
Ich erinnerte mich an den Tag, als ich sie gefragt hatte, wann ich endlich mit Dalibor beim großen Rennen starten dürfte. Er war drei Jahre alt gewesen und ich gerade mal acht. Jiri hatte mich später ausgelacht und erklärt, dass Mädchen gar nicht zum Rennen zugelassen würden. Ma aber hatte gelächelt und mein Gesicht in beide Hände genommen.
»Glaube nur fest daran, dass sich Träume erfüllen können«, hatte sie gesagt. »Wenn das Feuer in deinem Herzen heiß genug brennt, wird es dir jeden Weg ebnen, den du gehen willst.« Sie tippte mir gegen die Brust. »Genau diese Kraft hat auch das Schneefeuer, und deshalb brechen die Prinzen jedes Jahr auf, um die lange Reise bis ins Tal des Frühlings anzutreten.« Eine Träne glitzerte in ihrem Augenwinkel. »So beschwerlich sie auch ist, versuchen sie es immer wieder aufs Neue – so wie dein Vater es vorhatte. Es ist ein tragisches Unglück, wenn man schon auf dem Weg zur Erfüllung seiner Träume ums Leben kommt. Aber ohne Träume fängt man gar nicht erst an zu leben.« Sie hatte mich fest in den Arm genommen, und ich wusste, dass Pa stolz auf sie gewesen wäre.
Wieder fiel mein Blick auf das kleine Stallfenster über Dalibors Box. Mein Spiegelbild sah mich neugierig an, obwohl ich mich eigentlich kaum verändert hatte. Unter Jiris Mütze kam ein Stück von meinem Zopf zum Vorschein. Der einzige Unterschied war, dass ich ihn mit einem Clip befestigt hatte – für den Fall, dass mich unterwegs jemand erkannte. Sicherheitshalber tastete ich noch einmal nach dem gefalteten Zeitungsausschnitt in meiner Hosentasche. Er war noch da. Ich musste mich gar nicht erst kneifen, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träumte.
Schon von Weitem erkannte ich das Haus von dem Foto. Die weiße Farbe fügte sich harmonisch in die Landschaft. Feine Schneewehen zogen sich über das Dach und ließen nur vereinzelt rote Ziegel durchblitzen. Das Gebäude war beeindruckend groß, und ich fragte mich, wie viele Angestellte dort wohnen mochten.
Der Kralshof lag wie der Sturmhof abseits des Dorfes, was mit Sicherheit die einzige Gemeinsamkeit war. Die hohen Fenster erinnerten eher an den Saal des Rathauses, in dem der jährliche Prinzenball stattfand, und die großzügigen Stallungen waren mit nichts zu vergleichen, das ich bisher gesehen hatte. Die Pferde mussten sich hier so wohlfühlen, dass sie sich vermutlich sogar freiwillig einquartiert hätten.
Ich hielt den Schlitten an und versank in ehrfurchtsvollem Staunen. Neben dem Hauptgebäude gehörten zwei kleinere Anbauten zu dem Gutshof der Krals. Das Anwesen war noch viel imposanter, als ich es mir vorgestellt hatte. Am schönsten allerdings fand ich die vielen liebevollen Details: Kleine Sprossenfenster in derselben karminroten Farbe wie das Dach ermöglichten den Ausblick aus dem Stall. Eine schmiedeeiserne Darstellung eines Schlittengespanns zierte das Stalltor. Und über dem Eingangsportal des Haupthauses war eine riesige Uhr in der Wand eingelassen, deren Zeiger ebenfalls aus kleinen Pferden bestanden. Ich hatte noch nie einen hübscheren Hof gesehen. Ich war geradezu verliebt – vom ersten Augenblick an.
Mit einer Hand schob ich mir die Mütze vom Kopf und löste mit der anderen den Clip. Ich ließ den Zopf in meiner Jackentasche verschwinden. Dann strubbelte ich mir einmal durch die Haare, bevor ich die Mütze wieder aufsetzte und tief in die Stirn zog. Ma hatte mir immer versichert, wie besonders schön meine langen Haare waren, und ich hätte nie gedacht, dass ich sie jemals abschneiden würde. Aber in diesem Moment bereute ich gar nichts. Ich musste diese Stelle haben. Um jeden Preis der Welt.
Sachte schwang ich die Zügel und schnalzte Lancelot zu. Der Rest des Weges verging beinahe zu schnell. Zu gerne wäre ich noch einmal in Gedanken durchgegangen, was ich sagen wollte, um mich vorzustellen, da stand ich schon vor dem Haupteingang. Als ich den schweren Messingring umfasste und an der Tür klopfte, zitterten meine Finger ein wenig. Es dauerte nicht lange, bis die