Ich habe Licht gebracht!. Anja Zimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anja Zimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783867295666
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sehnte sich nach einem Theaterabend und hoffte auf Caroline von Bonniot, die Freundin ihrer Mutter. Ihr hatte sie von ihrem Kommen geschrieben und angefragt, ob ein Theaterbesuch möglich sei. In der Hoffnung auf einen Abend, an dem sie wirklich Spaß hatte, schlief Louise endlich ein.

      Beim Frühstück wurde besprochen, auf welchen Ball die beiden Paare abends gehen wollten. Sehr zum Missfallen der beiden Bräutigame war es für die Tante eine Selbstverständlichkeit, die jungen Leute zu begleiten. Die Tante bot Louise zwinkernd an, auf dem nächsten Ball ihre Beziehungen zu guten Familien spielen zu lassen, doch Louise lehnte dankend ab.

      Erleichtert hörte sie Caroline von Bonniots Läuten und warf sich ihren Mantel um.

      »Bis später, liebe Tante!«, rief sie noch und war schon aus der Tür. Die Tante hörte ihre fröhlichen Sprünge die Treppen hinunter.

      »Lass sie nur, Tante Therese. Sie soll ihre Freude haben. Und das ist nun mal das Theater und nicht der Ballsaal.«

      Unterdessen begrüßten sich Louise und Caroline herzlich.

      »Na? Hat Tante Therese dir noch immer keinen Ehemann besorgt?«

      »Dieser Kelch möge an mir vorübergehen«, grummelte Louise. Dann atmete sie einmal tief durch. In der Gegenwart Carolines fühlte sie sich deutlich wohler. Auch Caroline von Bonniot war verwitwet, aber dies schien die einzige Gemeinsamkeit zwischen ihr und Tante Therese zu sein. Caroline kleidete sich in eine schlichte, klare Eleganz, die Louise sehr bewunderte. Louise trug wie immer ein himmelblaues Kleid, darüber einen Mantel aus brauner Wolle. Handschuhe und ein kleiner Hut vervollständigten die Garderobe.

      »Komm, jetzt gehen wir erst einmal durch die Stadt. Du willst sicher die Frauenkirche sehen.«

      »Und ob! Denn unsere Frauenkirche in Meißen ist da wohl kein Vergleich«, rief Louise glücklich und hakte sich bei Caroline unter.

      Im Café Français in der Waisenhausstraße stärkten sie sich für den Abend.

      »Heiße Schokolade ist besonders hier eine Köstlichkeit. Du musst sie unbedingt probieren. Und dazu die Haustorte. Einfach himmlisch.«

      Der Kellner brachte das Bestellte und die beiden, hungrig von ihrer Stadttour, aßen mit Appetit.

      »Und? Ist es sehr schlimm mit Tante Therese?«, fragte Caroline, nachdem sie sich den Mund mit der Serviette abgewischt hatte.

      Louise machte dicke Backen und ließ langsam die Luft entweichen.

      »Nächstes Jahr werde ich einundzwanzig Jahre alt. Dann bin ich mündig. Dann darf ich über mich selbst bestimmen. Dann kann ich selbst entscheiden, was ich mit meinen Mieteinnahmen mache, mit wem ich mich wann und wo treffe, was ich lese. Gut, ich glaube nicht, dass Julius und Heinrich meinen Schwestern allzu viele Vorschriften aufbürden werden, aber es ist doch ein anderes Gefühl, wenn man wirklich auch vor dem Gesetz frei ist und nicht wie ein Kind einen Vormund braucht. Nachdem unsere Eltern gestorben waren, mussten wir einen Vormund haben. Nicht einmal Tante Malchen zählte. Eine gestandene Frau von über fünfzig Jahren! Ich muss zugeben, ganz so gestanden ist die Tante nicht. Sie hat sich gut eingerichtet in ihrer Unmündigkeit und fand es gar nicht wichtig, dass sie im letzten Jahr auch mündig wurde. ›Was soll mir das bringen?‹ hat sie gefragt. ›An meinem Leben ändert sich doch nichts.‹ Sie denkt tatsächlich so.«

      Caroline stellte ihre Tasse mit einem Seufzer ab. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich gejubelt habe. Das allererste, was ich tat, war, den Vormund, den mein eigener Mann für mich bestimmt hatte, zum Teufel zu jagen. Glücklicherweise hat er nicht das ganze Vermögen verschleudert und einen guten Teil konnte ich vor Gericht zurückklagen. Ich fürchte, wir haben noch einen sehr langen Weg vor uns. Weißt du, wenn Frauen selbst so denken wie deine Tante Malchen, wenn sie ihre eigene Unterlegenheit und Unmündigkeit bequem finden, dann wird sich niemals etwas ändern.«

      »Es fängt schon damit an, dass man uns Mädchen aus der Schule hinauswirft, sobald wir konfirmiert sind. Ich habe mir von meinen Eltern zu Weihnachten gewünscht, ein Jahr später konfirmiert zu werden, damit ich ein Jahr länger in die Schule gehen konnte. Es ist doch eine Schande, dass man in einem Alter, in dem man so wissbegierig ist, zurückgeworfen wird auf Handarbeiten, Malen und ein bisschen Klavierspielen. Aber meinen Konfirmationsspruch, den hab ich mir zu Herzen genommen. ›Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des ewigen Lebens geben.‹ In diesem Moment lag das Leben vor mir wie ein großer, weiter Kampfplatz, und ich betete darum, dass der Kampf kommen möge, damit ich mich in ihm bewähre. Ein Kampf für eine bessere Welt. Für diesen Kampf muss auch eine Mädchenhand das Schwert aufnehmen.«

      Louise hatte so enthusiastisch gesprochen, als wolle sie sich tatsächlich jeden Moment einem wilden Kampf stellen. Andere hätten in diesem Spruch vielleicht nur ein treues Festhalten am christlichen Glauben gesehen, für das man die Krone des ewigen Lebens erhielt. Für die wenigsten Konfirmandinnen wäre dies ein dramatischer Aufruf gewesen und würde sie nicht davon abhalten, ein allgemeines Leben mit Ehe, Kindern, Haus und Hund zu führen. Bei Louise war das so ganz anders: Bei diesen Worten lag ein schmerzlicher Zug um ihre Lippen, ihre Augen bekamen eine Tiefe, als blickten sie in eine finstere Schwere, viel zu schwer für so junge Augen. Caroline legte liebevoll ihre Hand auf Louises Arm. Jetzt erst verstand sie, wie verzweifelt Louise um ihren Bruder, ihre große Schwester, ihre Eltern trauerte. In so jungen Jahren hatte sie Verluste hinnehmen müssen, die gestandene Menschen kaum verkrafteten.

      In ihrem Kindesalter, mit zweieinhalb Jahren, hatte sie ihr wenige Jahre älteres Brüderchen Heinrich verloren. Caroline erinnerte sich noch sehr genau, dass ihre Freundin voller Sorge berichtet hatte, wie sehr Louise ihren Bruder vermisste und lange nicht aufhörte, nach ihm zu fragen.

      Diese Verluste waren schon schlimm genug gewesen. Nach Heinrichs Tod hatte sich Clementine rührend um Louise gekümmert. Clementine war ihr so viel mehr als eine große Schwester gewesen: eine Seelenverwandte, eine Trösterin, die sich Zeit für die außergewöhnliche Schwester nahm; die ihr zuhörte, sie umarmte. Dazu hatte die Mutter durch all die viele Arbeit wenig Zeit gehabt. Nach Clementines Tod hatte sich Louise inniger an die Mutter angeschlossen, als diese ging, blieb ihr der Vater als letzte Zuflucht der Sicherheit. Doch er folgte seiner Frau nur ein halbes Jahr später ins Grab. Wie musste es einem Kind, einem jungen Mädchen gehen, das nach und nach die Menschen verlor, auf die es sich verlassen wollte? Ihr ganzer Halt schien die Literatur, die Kunst zu sein. Aber konnte das genügen?

      Caroline lächelte ihrer jungen Freundin warm zu. Sie wusste, dass sie kein Ersatz für Bruder, Schwester und Eltern war, aber sie wollte Louise so viel wie möglich mitgeben, auf sie aufpassen und behüten. »Schreibst du noch? Deine Mutter hatte mir erzählt, dass du ein so schönes Gedicht gemacht hast, als der Mitregent Meißen besucht hat.«

      »Ja, ich schreibe noch, aber nur für die Schublade«, erwiderte Louise leise.

      »Du zeigst deine Werke niemandem?« Caroline war überrascht, denn ihre Freundin hatte ihr berichtet, dass Louise viel und oft geschrieben habe.

      »Wenn Clementine noch lebte, könnte ich mit ihr meine Gedichte sicher teilen.«

      Caroline sah, wie sich ein Schatten über Louises Gesicht ausbreitete.

      »Komm, Louise«, sagte sie sanft. »Ich habe noch eine Überraschung für dich. Ich bin sicher, es wird dir gefallen. Es ist mir eine große Ehre, meine kämpferische Jungfrau ins Theater zu geleiten. Dort wirst du deine Schwester im Geiste treffen.«

      Wenig später saßen sie auf dem ersten Rang des Staatstheaters in der ersten Reihe. Caroline von Bonniot verfügte glücklicherweise über das Geld, sich solcher Annehmlichkeiten zu versichern. Louise liebte die Atmosphäre, die so kurz vor einer Vorstellung im Theaterraum herrschte. Diese aufgeregte Vorfreude, das Stimmengewirr und Wogen feiner Kleider …

      Caroline zwinkerte Louise zu. Sie war froh, der Tochter ihrer verstorbenen Freundin eine solche Freude machen zu können und sie ein wenig unter ihre Fittiche zu nehmen. Sie konnte verstehen, dass Charlotte Otto sich besonders große Sorgen um ihre Jüngste gemacht hatte, aber da war etwas Besonderes an Louise, das sie noch niemals bei anderen jungen Mädchen beobachtet hatte.