Zwei Herren waren äußerst skeptisch. Louise und Caroline tauschten belustigte Blicke: Der eine der Herren, der nicht müde wurde, seine Fähigkeiten als Arzt herauszustreichen, behauptete ganz fachmännisch, dass der menschliche Körper die Geschwindigkeit der Eisenbahn überhaupt nicht aushalten könne.
»Aber es sind doch schon Leute damit gefahren. Und außerdem steht ganz vorne der Lokführer«, entgegnete sein Gegenüber. Der Lokführer müsse dann wohl ein ziemlich grober Kerl sein; aber Damen könne man diese Strapaze auf keinen Fall zumuten. Louise wünschte sich nichts sehnlicher, als sich dieser Strapaze auszusetzen! Sie konnte nicht anders, sie musste sich nach vorn drängen, hin zum Rande des Bahnsteiges. Caroline mochte rufen und winken, wie sie wollte.
»He, he, junges Fräulein, nicht so stürmisch!«, rief ein Mann und fasste sie am Arm, denn beinahe wäre sie dem Abgrund zu nahe gekommen. Sie schaute hinunter in das Gleisbett, wo zwei eiserne Stränge nebeneinander lagen. »Schienen« wurden sie genannt. Wenn der Zug auf diesen Schienen kam, musste er sehr groß sein. Louise neigte sich vor; die Schienen verliefen sich in der Ebene, immer weiter und weiter, bis zum Horizont. Wohin mochten diese neuen Bahnen führen? Louise fühlte ihr Herz klopfen. Diese Bahnen waren viel mehr als nur eine eiserne Straße, auf der gleich ein Wagen vorbeifahren würde. Sie wiesen in eine Zukunft, die unabdingbar kommen würde. Eine Zukunft, in der alle Menschen am Fortschritt teilhaben würden. Ehern war dieser Weg vorherbestimmt, nicht eine Handbreit würde man ihn verändern können.
Plötzlich ging eine Bewegung durch die Menschenmenge, denn von ferne hörte man fauchenden Lärm. Alles drängte, reckte sich und rief aufgeregt durcheinander. »Der Zug kommt! Der Zug!« Und tatsächlich: Auf den Schienen rollte ein schwarzes Ungetüm heran, so riesig, dass Louise kaum glauben konnte, dass man einen solchen Riesen aus Eisen überhaupt bewegen könne. Zitternd vor Aufregung stand sie ganz am Rande des Bahnsteigs. Sie hörte nicht die Rufe der Menschen um sich, sah nicht ihre entsetzten Gesichter, hörte nicht mehr den Arzt, der nun ganz laut vor einer Fahrt mit dieser Höllenmaschine warnte. Sie sah nur die glänzend schwarze Lokomotive, ihre riesigen Räder, die durch Eisenstangen miteinander verbunden waren. Sie schaute hinauf, wo aus einem Fenster ein verrußtes Gesicht grüßte. Der Lokführer schwenkte seine Mütze. Oh, wie glücklich musste dieser Mensch sein! Er ließ seine Lok wie zur Begrüßung pfeifen. Der scharfe Ton hallte wider zwischen den Bergen, die die Elbauen säumten. Der Rauch der Lok hüllte die Menschenmenge ein, gab sie wieder frei, nur um sie gleich wieder in seinem dichten Nebel zu verwirren.
Und Louise, die sich sonst vor Menschenmengen und Lärm so sehr scheute, war glücklich wie lange nicht. Sie durfte Zeugin dieses Fortschrittes sein. Diese Eisenbahn war weit mehr als nur ein Gefährt, das die Kutsche ablöste, um Menschen und Dinge von einem Ort zum nächsten zu bringen. Es war der Beginn einer neuen Zeit. Umbruch, Aufbruch zu Neuem. Das war die Verheißung, die Louise im schrillen Pfeifen der Lokomotive hörte.
Januar 1840, auf dem Weg von Meißennach Oederan im Erzgebirge
Antonie hatte im vergangenen November Julius Dennhardt geheiratet. Auch wenn Tante Therese überzeugt war, dass Antonie mit Julius eine glückliche Ehe führen würde, hatte Louise ihre sehr eigene Meinung. Still hatte sie ihre Schwester in deren Brauttagen angeschaut. War das wirklich reine Liebe, offene, unvoreingenommene Herzlichkeit, die aus Antonies Lächeln sprach? War da nicht eine leise Furcht? Louise wollte ihre Schwester nicht direkt fragen, denn sicher wäre sie ärgerlich geworden. Natürlich freute sie sich auf die Ehe mit Julius. Aber waren das wirklich Gründe, die Louise nachvollziehen konnte? Sie hatte vielmehr das Gefühl, dass Antonie heiratete, um dem engen Leben mit Tante Malchen zu entkommen, einen eigenen Wirkungskreis zu haben an der Seite eines Mannes, von dem sie sich geliebt fühlte. Julius war ein geachteter Mann. An seiner Seite wurde Antonie ganz von selbst zur geachteten Frau. Die in Gedanken gestellte Frage, ob sie selbst so leben könnte, beantwortete Louise mit einem entschiedenen Nein! Stiller war es geworden, seit Antonie fort war. Das Weihnachtsfest hatte Louise nur mit Francisca und Tante Malchen gefeiert. Wie sollte das erst werden, wenn Francisca im nächsten Jahr auch noch ging?
Unter diesen Gedanken rumpelte Louise in der Postkutsche dem Erzgebirge entgegen. Bekannte aus Meißen waren ebenfalls den Weg bis nach Freiberg gefahren und hatten Louise dort einen Begleitschutz vermittelt, damit sie nicht allein reisen musste. Die Luft in der Kutsche war stickig, trotz der Kälte draußen, denn die Menschen drängten sich eng aneinander. Louise war froh, einen Platz am Fenster zu haben, sodass sie dann und wann die beschlagenen Scheiben mit ihrem Zeigefinger abwischen konnte, um ein wenig klare Sicht zu haben auf die schneebedeckte Landschaft. Hier und dort kündeten winzige Lichtpunkte von menschlichen Behausungen. Waren ein paar Lichtpunkte dichter beisammen, waren es wohl Dörfer. Gedankenverloren schaute sie in die Nacht, doch dann tauchte etwas aus der Finsternis auf, das ihre Aufmerksamkeit fesselte: Große, außergewöhnlich helle Lichter hoben sich hoch hinauf bis weit über den Erdboden, beglänzten die schneebedeckten Weiten, die sie umgaben. Louise hatte solches noch niemals gesehen und starrte fasziniert diese viereckigen Lichter an, die ganz gleichmäßig nebeneinander angeordnet waren. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte Fenster. Ja! Es waren große Fenster, in denen Bewegung war. Feenpaläste! Das war ihr erster Gedanke. Sie schaute sich in der Kutsche um. Die meisten ihrer Mitreisenden schliefen. Aber eine freundlich aussehende, ältere Dame war wach. Louise nahm all ihren Mut zusammen und fragte: »Was ist das?«
Die Dame neigte sich vor, um aus dem Fenster zu schauen. Auch sie kniff die Augen zusammen, legte ihren Kopf schief und sagte im erzgebirgischen Dialekt: »Das ist die Baumwollspinnerei von Oberschöna.«
»Danke!«, flüsterte Louise und wandte sich wieder dem Fenster zu. Eine Baumwollspinnerei. Eine Fabrik. Julius hatte erzählt, dass es in Oederan viele Fabriken gibt. Die einzige große Fabrik, die Louise kannte, war die Meißener Porzellanmanufaktur, wo gebildete Herren in gesicherter Stellung arbeiteten. So ungefähr stellte Louise es sich vor. Sie war gespannt, ob sie eine Fabrik auch einmal besichtigen könnte. Zu verlockend war ein Besuch in einem solchen Feenpalast.
Louise musste für eine Weile eingenickt sein, denn sie schreckte auf, als der Kutscher laut »Oederan!« rief. Die Kutsche hielt mit einem Ruck, der Verschlag wurde aufgerissen, unbarmherzig schoss die Winterluft herein. Spätestens jetzt waren alle wach, streckten und erhoben sich, soweit es die Enge zuließ, und griffen nach ihren Gepäckstücken. Louises Reisebegleiter nahm ihren Koffer und reichte ihr die Hand, um ihr aus der Kutsche zu helfen. Erst als er sah, dass Louise von ihren Verwandten in Empfang genommen wurde, verabschiedete er sich nach Louises freundlichem Dank mit einem Nicken.
»Wie schön, dass du endlich da bist«, rief Antonie glücklich und umarmte ihre Schwester. »Julius konnte nicht kommen, er muss noch arbeiten. Deshalb habe ich Herrn Kropp, unseren Hausdiener, gebeten, mich zu begleiten. Louise begrüßte Herrn Kropp und gab ihm ihren Koffer. Auf dem Heimweg sprudelte Antonie los, wie schön es in Oederan, wie fabelhaft die Wohnung sei und wie gut man sie schon überall in der Gesellschaft aufgenommen habe. Louise hörte nur mit einem Ohr zu, schaute sich um und hatte bald wieder einen dieser Feenpaläste erspäht.
»Ist das dort auch eine Baumwollspinnerei?«, unterbrach sie den Redefluss ihrer Schwester.
»Das? Ach nein, das ist eine Weberei. Einige Leute, die in unserem Haus wohnen, arbeiten dort.« Die Menschen mussten wohl gutes Geld in der Fabrik verdienen, wenn sie sich eine Wohnung in demselben Haus leisten konnten wie ihr Schwager.
Doch Louise wurde bald eines Besseren belehrt. Zunächst musste sie erkennen, dass die von Antonie so hoch gelobte Wohnung weit weniger komfortabel war, als sie sich das vorgestellt hatte. Das Wohnzimmer, in dem sie so warm und gemütlich beieinander gesessen und ihr Wiedersehen gefeiert hatten, war mit Abstand das beste Zimmer. Der Raum, in dem