Nun wurde es dunkel im Zuschauerraum. Der Vorhang hob sich und gab den Blick frei auf eine französische Landschaft. Louises Blick flog über die Bühne und fand befriedigt alles, was Schiller angeordnet hatte: eine ländliche Gegend, vorn zur Rechten ein Heiligenbild in einer Kapelle, zur Linken eine hohe Eiche. Thibaut d’Arc stand dort mit seinen drei Töchtern und deren Bräutigamen. Die beiden ältesten waren sehr glücklich, bald zu heiraten, nur die jüngste, Jeanette, sträubte sich. Der Vater sparte nicht mit Tadel, worauf Raimond, Jeanettes Bräutigam, Partei für seine widerspenstige Braut ergriff.
Ab und zu beobachtete Caroline ihre junge Freundin aus den Augenwinkeln. Wie begeistert hatte sie ihre Augen auf Johanna geheftet, als diese tatsächlich den Helm aufsetzte und zu dem Schwert griff. Und sie konnte das Stück tatsächlich auswendig. Ihre Lippen bewegten sich lautlos murmelnd, auf ihrem Gesicht lag Johannas Anspannung, ihr glühendes Verlangen, Frankreich zu befreien.
Wie glücklich strahlte sie, als Johanna nach der siegreichen Schlacht vor dem Dauphin stand, wie konnte sie bei den Worten Agnes Sorels verärgert mit den Augen rollen, als diese der Jungfrau anbot, sie in weiblicher Verschwiegenheit zu beraten, welchen der edlen Ritter sie heiraten wollte. Tief verfinsterte sich Louises Stirn, als der Erzbischof Johanna mahnte, dass das Weib zur liebenden Gefährtin des Mannes geboren sei.
In der kommenden Pause lud Caroline zu einem Glas Sekt ein. Während sie sich zuprosteten und ihre Blicke durch das prachtvolle Foyer des Theaters schweifen ließen, sagte Louise: »Ich muss mich nicht über Tante Therese wundern, wenn die Leute nicht einmal eine Jungfrau von Orléans mit ihrem Heiratsblödsinn in Ruhe lassen können.«
»Allein für diesen Satz muss ich dich herzlich lieben, Louise.« Und leise fügte sie hinzu: »Und Clementine hätte dich ebenso dafür geliebt.«
Louise lächelte wehmütig und schaute in ihr Glas. »Ich vermisse sie noch immer. Es gibt so vieles, das ich gerne mit ihr teilen, ihr sagen würde. Manchmal rede ich einfach so mit ihr, als sei sie noch da. Ich passe aber auf, dass niemand in der Nähe ist«, schob sie schnell nach, sich nach zufällig Mithörenden umdrehend.
»Weißt du Louise, ich bin sicher, sie wacht über dich als dein Schutzengel, dein guter Geist.«
»Es ist nicht nur, dass ich meine Freiheit behalten möchte. Die Verluste der Menschen, die ich so sehr geliebt habe, haben mich immer zutiefst erschüttert. Wenn ein Mann käme, den ich so sehr lieben könnte, bei dem ich wüsste, dass er mich so sein lässt wie ich bin, der mich schreiben lässt; wenn es einen solchen Mann gäbe, hätte ich immer noch Angst, mich an ihn zu binden. Ich fürchte, ich könnte einen solchen Verlust nicht noch einmal verkraften. Ich könnte es einfach nicht.«Die letzten Worte hatte sie kaum hörbar geflüstert.
Liebevoll fragte Caroline nun, ob Louise einen guten Freundeskreis in Meißen hatte, und sah glücklich, wie sich Louises Gesicht bei dieser Frage aufhellte. »Oh, ja! Ich habe viele Freundinnen und Freunde. Nicht nur in Meißen, sondern auch sehr liebe Verwandte in Leipzig, die ich gerne besuche. Nicht alle meine Freundinnen teilen meine Meinungen und Neigungen, aber mit den meisten kann ich mich über das unterhalten, was mich bewegt. Unser kleiner literarischer Zirkel, der ›Bienenkorb‹, ist immer eine schöne Abwechslung und ich stehe in Briefkontakt mit vielen Freundinnen, die nach der Schule aus Meißen fortgezogen sind.«
»Es freut mich sehr, dass du so viele Freundinnen und Bekannte hast.« Und leise fügte sie hinzu: »Auch wenn sie dir nicht die Menschen ersetzen können, die du schon verloren hast in deinem jungen Leben.«
»Gerade deswegen will ich dankbar sein für die, die ich habe. Man wird so unsicher und fragt sich manchmal, wie lange man eine gute Freundin, an die man sich eng anschließt, noch hat.«
Verrat brachte die Jungfrau in die Hände der Engländer. Gefesselt musste sie von den Zinnen aus mit ansehen, wie sich das Kriegsglück von den Franzosen abwandte. Als ein wichtiger Heerführer verwundet weggeführt wurde, riss die Jungfrau verzweifelt an ihren Ketten und schrie: »Und ich bin nichts als ein gefesselt Weib!« Caroline sah, wie sich Louises Hände in ihrem Schoß zu Fäusten ballten. Sie verstand ihre verstorbene Freundin nur zu gut. Louise wollte kämpfen, aber legte diese Zeit nicht allen Frauen Fesseln an? Louise war klug und hatte ein gutes Herz. Mit ihrem jugendlichen Elan wollte sie die Welt verändern, aber wann würde sie selbst einmal schreien »Und ich bin nichts als ein gefesselt Weib!«
Auf dem Heimweg wollte Louise durch eine der Gassen gehen, durch die sie auch ihr Hinweg geführt hatte, aber Caroline hielt sie zurück.
»Nein, Louise. Um diese Zeit wollen wir einen anderen Weg nehmen.«
»Wieso denn das? Schau, dort sind noch mehr Frauen unterwegs.«
Caroline atmete tief ein. »Das sind …«, begann sie langsam, »Frauen, die …« Konnte sie Louise wirklich diese Abgründe zumuten?, dachte Caroline. Ja, Louise musste es wissen. Es konnte nicht angehen, solche Dinge vor ihr zu verbergen. Leise fuhr sie fort: »Es sind Frauen, die sich selbst, ihren Körper verkaufen.«
Louise stand schreckensstarr. Sie hatte vage davon reden gehört, aber solchen Worten keinen Glauben geschenkt. Konnte eine Frau wirklich für Geld das Intimste mit einem Wildfremden teilen? Ihr Herz raste, wie in einem Bann starrte sie in die Straße, wo sich gerade ein Mann einer Frau näherte. Die beiden wechselten nur wenige Worte, dann stieß sich die Frau, die an der Hauswand gelehnt hatte, ab und folgte dem Mann. Louise schluchzte leise auf. Wie grauenhaft! Es war eine Sache, von solchen Ungeheuerlichkeiten zu hören und zu ahnen, dass es solche Frauen auch in Meißen gab. Aber hier in der Dunkelheit zu stehen und Zeugin eines solchen Grauens zu sein, das traf Louise wie ein Schlag. Caroline legte ihren Arm um Louises zitternde Schultern.
»Es sind die Ärmsten der Armen, Louise. Sie haben keine andere Wahl. Viele von ihnen haben Kinder zu Hause, die sie nur auf diese Weise vor dem Hungertod bewahren können. Sie tun es nicht aus Lust, sondern aus reiner Not. Wir können sie nicht verurteilen.«
Louise schwieg, aber Caroline sah, wie Louise wieder ihre Fäuste ballte. Nach einem tiefen Atemzug sagte Louise: »Du hast recht. Diese Frauen sind nicht zu verurteilen. Aber umso mehr die Umstände, die sie zu diesem Handeln zwingen. Wie kann eine Regierung zulassen, dass Frauen keine andere Wahl bleibt? Es muss einen Weg geben, diesen Frauen zu helfen. Ich meine nicht nur ein paar einzelnen, sondern allen. Niemand sollte gezwungen sein, sich selbst zu verkaufen. Oh Gott, ich bin so unendlich dankbar, dass ich diesem Schicksal nicht ausgeliefert bin. Alles könnte ich tun, alles, aber das …«
»Komm, Louise. Ich bringe dich nach Hause«, sagte Caroline sanft und zog sie mit sich fort. Bis sie am Haus der Tante angelangt waren, hatte sich Louise wieder so weit beruhigt, dass sie nicht mehr weinte.
Caroline schellte. »Erzähl Tante Therese besser nichts davon. Nicht, dass ich dich nicht mehr ausführen darf. Und morgen habe ich eine ganz besondere Überraschung für dich. Noch besser als Schillers Jungfrau.«
»Was denn?«, fragte Louise und schniefte ein letztes Mal.
»Wenn ich es dir jetzt schon erzähle, dann ist es keine Überraschung mehr. Aber ich verrate dir, dass du mit Sicherheit begeistert sein wirst.«
Da hörten sie die Schritte des Hausmädchens auf der Treppe, das ihnen die Tür öffnete.
»Gute Nacht, Louise.« Sie küsste sie auf beide Wangen, umarmte sie noch einmal herzlich. Louise schaute ihr kurz nach, hörte ihre klaren, festen Schritte auf dem Pflaster, dann ging sie ins Haus.
Der nächste Tag brachte tatsächlich eine sensationelle Überraschung: Louise stand zum ersten Mal in ihrem Leben an einem Bahnsteig. Um sie herum drängten sich die Menschen, die alle dieses Wunder bestaunen wollten. Eine Eisenbahn! Caroline hatte Mühe, ihren Schützling in der Menge nicht zu verlieren. Die Eisenbahn wurde