Ich habe Licht gebracht!. Anja Zimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anja Zimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783867295666
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ihm den Lohn halbieren. Und stell dir vor! Das hat er nicht eingesehen. Kam doch tatsächlich in mein Büro. In MEIN BÜRO! Hat mir vorgejammert von seinen kranken Kindern, die ihm so große Sorgen machen, dass er sich bei der Arbeit nicht konzentrieren könne. Er forderte nicht nur seinen vollen Lohn, sondern wollte sogar mehr haben. Hat behauptet, sein Lohn reiche nur für das Essen und die Miete. Wenn er mehr Geld habe, um den Arzt zu bezahlen, dann könne er sich auch wieder besser auf die Arbeit konzentrieren und würde gute Arbeit abliefern.«

      Der andere blies verächtlich die Luft durch die Zähne.

      »Ich hab ihn fristlos entlassen. Was für eine Unverschämtheit! Ob ich etwa schuld sei an der Krankheit seiner Kinder, hab ich ihn gefragt. Da zuckte er doch tatsächlich mit den Schultern und wies mich darauf hin, dass seine beiden Kinder in meiner Fabrik verunglückt seien. Sein Mädchen sei gestürzt und eine Lore sei ihr über die Hand gefahren. Was kann ich dafür, dass die dumme Trine nicht aufpasst, wohin sie ihre dreckigen Füße stellt? Und der Junge hat Husten. Schott behauptet, das käme von dem Staub in meiner Fabrik. Da ist mir der Kragen geplatzt. Meine Wachmänner haben ihn hinausgeprügelt.«

      Er rührte in seiner Tasse und trank, setzte sie aber mit angeekelter Miene wieder ab. »Ach, es gibt doch nichts Schlimmeres als eine lauwarme Schokolade.«

      Louise wurde übel.

      »Was ist denn los? Du bist ja ganz blass und zitterst. Schmeckt dir der Kuchen nicht? Ist er am Ende verdorben?«, fragte Antonie, indem sie mit empörtem Blick nach dem Kellner schaute. Louise fürchtete schon, Antonie wolle sich tatsächlich beschweren, und gebot ihr leise Einhalt. Dann dämpfte sie ihre Stimme zu einem Flüstern und neigte sich zu ihrer Schwester: »Hast du das eben nicht gehört, worüber die beiden Herren am Nebentisch geredet haben?« Sie hätte gar nicht lauter sprechen können, so sehr drückten die Tränen in ihrem Hals.

      »Nein, wieso?« Antonie strich mit ihrer Gabel die letzten Kuchenkrümel zusammen, besann sich dann eines Besseren und aß sie nicht. Ein zu sauberer Teller könnte aussehen, als könne man sich einen solchen Kuchen nur mit Mühe leisten. Sie lehnte sich zurück und blickte sich befriedigt um.

      »Sie haben über den armen Mann dort draußen gesprochen.« Louise zeigte aus dem Fenster, der Mann war schon verschwunden.

      »Meinst du den Mann in dem braunen Wollmantel? Der sieht gar nicht arm aus.«

      »Nein, der Mann, den ich meine, hatte nur Lumpen an.«

      Louise schwieg. Antonie sah ihre kleine Schwester besorgt an. Und nun hörte sie selbst, was am Nebentisch weiter gesprochen wurde. Es waren zwei Fabrikherren, die sich über ihre Arbeiter ausließen. Antonie kannte solche Gespräche zur Genüge. Wie faul und dumm die Arbeiter allesamt seien, wie unverschämt in ihren Forderungen nach mehr Lohn. Wie täppisch sich die Kinder oft anstellten, wie die Mütter zu keifenden Furien wurden, wenn ihren Kindern Leid geschah durch Maschinen.

      »Ich hab keinen Hunger mehr«, flüsterte Louise.

      »Du kannst die Leute nicht alle retten, indem du jetzt auf deinen Kuchen verzichtest. Iss auf, damit wir gehen können.« Sie winkte bereits dem Kellner, um zu bezahlen.

      »Antonie, ich kann nicht«, flehte Louise.

      »Die Rechnung bitte.«

      Louise nahm all ihren Mut zusammen und bat den Kellner, das Stück Kuchen für sie einzupacken. Es sei ihr im Moment zu viel und sie wolle es später essen. Antonie rollte mit den Augen, sagte dann aber: »Ja, seien Sie so gut und packen Sie uns das Stück Kuchen ein.«

      »Sehr wohl, Frau Gerichtsdirektor.« Der Kellner nahm Louises Teller und verschwand mit einer Verbeugung.

      »Clementine hätte mich verstanden«, dachte Louise, als sie ihrer Schwester nach draußen folgte.

      Am Abend desselben Tages saßen sie wieder in dem behaglichen Wohnzimmer zusammen. Julius hatte einen guten Tag gehabt, alles war zu seiner Zufriedenheit vonstattengegangen; ein Fall, der ihm zunächst Kopfzerbrechen bereitet hatte, war geklärt worden. Er war richtig aufgeräumt und holte zum Nachtisch sogar eine Spätlese aus seinen Weinvorräten. Wie goldenes Öl floss der Wein in die Kristallgläser. Mit ausdruckslosem Gesicht nahm Louise das Glas und nippte daran. Es schmeckte köstlich.

      »Louise, was ist los mit dir? Hattet ihr keinen schönen Tag? Muss ich etwa deine Schwester tadeln, dass sie keine gute Gastgeberin ist und dich nicht gut unterhält?« Er zwinkerte seiner Frau zu, die ihren Ärger kaum verbergen konnte. »Es liegt sicher nicht an mir. Es liegt eher an den Umständen hier.« Und beim Anblick der hochgezogenen Brauen ihres Gatten fuhr sie fort: »Ich musste mit ihr noch Brot kaufen gehen. Aber erzähl doch selbst, Louise.«

      Louise schaute die beiden an und begann dann leise zu erzählen: »Ja, wir haben Brot gekauft – ich habe aber darauf bestanden, dass ich es selbst bezahle. Ich habe auf die Menschen gewartet, die ich morgens so früh die Treppen herunterkommen höre. Ihnen habe ich das Brot gegeben.« Sie verstummte für eine Weile, in der sie sichtlich mit sich rang. Ihre Augen hefteten sich auf das Kristallglas vor ihr, und als erlebe sie das alles noch einmal, erzählte sie mit dumpfer Stimme: »Wie armselig diese Menschen aussehen. Wie tief ihre Augen in den Höhlen liegen. Selbst die Kinder sehen schon ganz abgehärmt aus. Das sind keine Kinder. Sie gleichen eher unheimlichen Kobolden als lebendigen Menschenkindern. Es ist nichts Helles, Fröhliches an ihnen, wie es sich für Kinder gehört. Was soll aus ihnen werden, wenn sie schon in diesem jungen Alter nichts als Mühsal und Elend kennen? Sie schienen nicht einmal zu verstehen, dass ich ihnen etwas Gutes tun wollte. Sie haben es gar nicht verstanden, weil sie es offensichtlich noch niemals erlebt haben, dass ihnen jemand etwas schenkt. Wie mag dort wohl eine Weihnachtsbescherung aussehen? Die Mutter der Kinder hat sich sehr bedankt. Sie hatte sogar Tränen in den Augen. Dann kam ein alter Mann. Aber ich kann gar nicht sagen, ob er wirklich schon alt war oder nur so aussah. Ich hielt ihm das Brot hin. Als er es nahm, sah ich, dass seiner Hand zwei Finger fehlten. Ich wagte nicht zu fragen, wie das passiert sei. Nach dem Gespräch der beiden Fabrikherren, die wir heute früh im Café belauscht hatten, kann ich mir denken, dass ihm eine Maschine die Finger abgerissen hat. Er schaute mich stumm an. Mit so brennenden Augen, dass ich nur meinen Blick senken konnte. Sein Gesicht sehe ich noch immer vor mir. Namenlose Verzweiflung sprach daraus, tiefste Resignation, Müdigkeit und Hunger. Wie können wir denn hier beim Wein sitzen, wenn die Menschen dort oben nichts haben? Nichts!« Sie brach in Tränen aus. Antonie und Julius wechselten Blicke. Sanft strich Antonie ihrer Schwester übers Haar. »Schau, Louise, wir haben nicht die Macht es zu ändern, so gerne wir es ändern würden.«

      »Und diejenigen, die die Macht haben, die wollen nichts daran ändern. – Es ist eine Schande!«, rief Louise aus, indem sie ihre Tränen niederkämpfte. »Aber ich bestehe darauf, dass ihr beiden mir noch mehr von diesem Elend zeigt. Ich muss es sehen. Die einzige Waffe, die ich habe, ist meine Feder. Und ich weiß auch schon, was ich schreiben werde. Es muss ein Roman sein, damit das, was ich sagen will, von möglichst vielen Menschen gelesen wird. Ich weiß selbst, dass ich nicht allen diesen Menschen helfen kann. Ich kann nicht allen Brot kaufen. Aber ich will alles für sie tun, damit ihr Los irgendwann leichter wird. Ich will schreiben. Man muss das alles schreiben, in die Welt hinausschreiben, damit es die Menschen wenigstens vor ihren inneren Augen sehen, wenn sie schon nicht selbst hierher kommen und das Elend anschauen. Fast bin ich wütend auf mich selbst, dass ich so lange von diesen Dingen nichts gewusst habe. Ich habe die Augen verschlossen und gerne den neuen Stoff gekauft, der so schön gleichmäßig gewebt und dabei so günstig ist. Ich kann jetzt immerhin ahnen, wie er hergestellt wird. Alles hat seinen Preis. Auch dieser Stoff hat seinen Preis, nur muss nicht ich ihn bezahlen, sondern er wird von diesen armen Kindern bezahlt. Sie bezahlen mit ihrer Kindheit, die man ihnen raubt. Sie bezahlen mit ihrer Gesundheit, die man ihnen zerstört, und sie bezahlen mit ihrem Geist, den man von Anbeginn an abtötet.«

      Julius atmete hörbar ein, als wolle er Louise etwas entgegnen, aber sie kam ihm zuvor: »Ich weiß, ich werde großen Ärger bekommen mit der Zensur. Deshalb will ich meine Kritik an diesen himmelschreienden Zuständen in einen Roman verpacken. Das ist wohl das Harmloseste. Romane werden von vielen Literaten