Ich habe Licht gebracht!. Anja Zimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anja Zimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783867295666
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Ich werd dich dran erinnern, wenn du in einer Hütte haust und jeden Groschen dreimal umdrehen musst.« Tante Malchen sprach mit auffälliger Überzeugung. Sie gehörte zu den vielen Tausenden, die niemals geheiratet hatten und sich mit dem begnügen mussten, was verheiratete Geschwister ihnen zugestanden: einem Platz am Tisch, einem Bett. Dafür mussten sie sich nützlich machen, jeden Tag neu ihre Daseinsberechtigung verdienen.

      Die Frage, ob Clementine aus Liebe oder für Geld heiratete, wurde nicht mehr beantwortet. Sie starb am 31. Dezember 1831 an Schwindsucht und wurde am Neujahrstag begraben. So traurig hatte die Familie Otto noch niemals ein neues Jahr begonnen. Am schlimmsten traf es Louise. Clementine, ihre Clementine war nicht mehr da. Clementine, die zwischen all der Arbeit doch auch Zeit für sie gehabt, sie umarmt und getröstet hatte, wenn die Bilder in ihrem Kopf gar zu heftig geworden waren. Wer sollte sie nun verstehen, wen konnte sie jetzt noch teilhaben lassen an der verworrenen Welt ihres Inneren?

      Ihr kleiner, verwachsener Körper war ein einziges Schluchzen, als sie ihren Kopf in ihren Armen barg. Sanft fühlte sie die Hand der Mutter auf ihrem Kopf. »Ich weiß, Louise, Clementine stand dir am nächsten.« Mit einem Aufschrei umklammerte Louise ihre Mutter. »Ich will, dass sie zurückkommt. Sie soll wieder bei uns sein.« Dann brach sie in so heftiges Weinen aus, dass die Mutter all ihre Aufmerksamkeit ihrer Jüngsten zuwenden musste. »Louise, es tut uns allen unendlich weh.« Und leise, wie zu sich selbst sprechend, fügte sie hinzu: »Die ganze Welt steht auf dem Kopf, wenn Eltern ihre Kinder begraben müssen. Sie war meine Erste. Und sie war ein ganz besonderer Mensch. Ich weiß selbst nicht, wie ich ohne sie auskommen soll.« Seufzend ließ sie ihre Jüngste los. »Es muss weitergehen. Für uns alle, die wir noch da sind, muss es weitergehen. Hier, Louise, die Äpfel müssen zu Apfelbrei verarbeitet werden, bevor sie ganz verderben.« Die ruhige Stimme ihrer Mutter brachte sie kaum zu sich. Ganz mechanisch griff sie nach dem Küchenmesser, das die Mutter ihr hinhielt, und schnitt die Äpfel auf. Schnitt die faulen Stellen heraus, das Kerngehäuse; schnitt die Äpfel in kleine Stücke und ließ sie in den Topf fallen, in den auch die Mutter ihre Stücke fallen ließ. Mit einem scheuen Blick bemerkte sie, dass die Mutter mit dem Handrücken ihre Augen wischte, um dann mit versteinertem Gesicht desto emsiger zu arbeiten.

      Louise schaute.

      Ihre Augen ruhten unverwandt auf den Herrschaften der Stadt, die mit großartigen Garderoben durch die Straßen flanierten. Sie sahen gelangweilt aus, wie sie da an den Schaufenstern standen, die Auslagen betrachtend, die ihnen längst keinen neuen Reiz mehr verschafften. Sie saßen in den feinen Cafés, aßen Torten, die ihnen nicht bekommen würden, weil das üppige Mittagessen noch im Magen lag. Sie schienen keinerlei Zweck zu haben, sondern waren einfach nur da, bevölkerten die Straßen wie gierige Dämonen, die mit riesigen Händen alles an sich rissen. Nichts blieb für diejenigen, die wirklich Hunger hatten.

      Dies war nicht nur in Sachsen der Fall, sondern in allen Ländern des Deutschen Bundes. Und diejenigen, denen der Hunger nicht jeden klaren Gedanken aus dem Kopf fraß, hungerten nach mehr: nach Freiheit! Zwar herrschte Friedhofsruhe in den deutschen Landen, aber es gärte …

      Wieder einmal war es im Badischen, wo sich der Widerstand mit Vehemenz regte: Da politische Versammlungen verboten waren, rief ein gewisser Philipp Jacob Siebenpfeiffer dazu auf, die Jubelfeier für die bayerische Verfassung7 ganz besonders eifrig zu besuchen. Die bayerische Verfassung war nichts, das man hätte bejubeln müssen, aber eine große Menge Volkes kam in jenen späten Maitagen des Jahres 1832 auf dem Hambacher Schloss zusammen. Die Tatsache, dass Siebenpfeiffer, der sich bereits durch die Herausgabe kritischer Zeitungen verdächtig gemacht hatte, zu diesem Fest einlud, hätte die Behörden aufrütteln können. Doch allzu schnell rüttelte und regte sich nichts bei deutschen Behörden. Die Jubelfeier gestaltete sich also ungestört zu einem riesigen Volksfest, zu dem etwa dreißigtausend Menschen strömten. Zum ersten Mal wagte man, schwarz-rot-goldene Fahnen zu zeigen, die für ein vereinigtes Deutschland standen. Mit diesen zog man hinauf zum Schloss, wo Siebenpfeiffer seine Eröffnungsrede hielt:

      »Es wird kommen der Tag, wo der Deutsche vom Alpengebirg und der Nordsee, vom Rhein, der Donau und Elbe den Bruder im Bruder umarmt, wo die Zollgrenzen und die Schlagbäume, wo alle Hoheitszeichen der Trennung und Hemmung und Bedrückung verschwinden.

      Dann wird in strahlendster Gestalt sich erheben, wonach wir alle ringen und wozu wir heute den Grundstein legen – ein freies deutsches Vaterland.

      Es lebe das freie, das einige Deutschland!

      Hoch leben die Polen, der Deutschen Verbündete!

      Hoch leben die Franzosen, der Deutschen Brüder, die unsere Nationalität und Selbstständigkeit achten!

      Hoch lebe jedes Volk, das seine Ketten bricht und mit uns den Bund der Freiheit schwört! Vaterland – Volkshoheit – Völkerbund hoch!«

      Ein geeintes Deutschland mit einer freiheitlichen, ja sogar demokratischen Verfassung wurde gefordert.

      Aber die Männer, die dieses Leuchtfeuer deutschen Volkswillens entzündet hatten, waren nicht in der Lage, es am Brennen zu halten. Die Fackel verlosch in einem Sumpf aus Eitelkeit, Eigensinn und Kleinkrämerei. Bei der abschließenden Versammlung, bei der sich die führenden Köpfe der Opposition heißredeten, wurde lediglich beschlossen, das jeder auf eigene Faust handeln solle. Man war sich einig, dass man sich nicht einigen konnte. Die Behörden hielten sich nicht lange damit auf, sich darüber zu amüsieren, sondern handelten. Alle Forderungen, die man so kühn in den Hambacher Sommer gerufen hatte, kamen als ein hohnlachendes Echo zurück: Die Repressalien wurden verstärkt, Oppositionelle umso gnadenloser verfolgt, die Zensurschrauben noch enger angezogen. Denn natürlich sah die Obrigkeit in diesem Fest keinen Aufbruch in eine strahlende Zukunft, sondern den Untergang jeglicher Ordnung. Anarchie und Bürgerkrieg würde ihrer Meinung nach dieser Hambacher Skandal nach sich ziehen.

      Tatsächlich berichtete die Presse in den umliegenden Kleinstaaten ausführlich über das Hambacher Fest, was die Menschen in den angrenzenden Gebieten zu Aufständen ermutigte. Pressefreiheit, Meinungsfreiheit mussten herrschen, wollte man der Obrigkeit die fatalen Missstände aufzeigen. Wie sonst sollte Abhilfe geschaffen werden, wenn man immer nur über den Hunger und das Elend der Menschen schwieg? Doch die Hoffnungen auf Freiheit und ein besseres Leben gingen unter im Kugelhagel der Soldaten.

      Heinrich Heine, der selbstverständlich auch auf der schwarzen Liste stand, die von den Behörden geführt wurde, schrieb nur wenig später:

      »Während den Tagen des Hambacher Festes hätte mit einiger Aussicht guten Erfolges die allgemeine Umwälzung in Deutschland versucht werden können. Jene Hambacher Tage waren der letzte Termin, den die Göttin der Freiheit uns gewährte.«

      Aber die Menschen ließen nicht locker: Am 3. April 1833 stürmten die Frankfurter die Konstablerwache, in der Hoffnung, dadurch eine Revolution in allen Ländern des Deutschen Bundes auszulösen, doch auch sie scheiterten. Allerdings machten sie mit ihrer Aktion den Herrschenden nur allzu bewusst, wie brandgefährlich die Stimmung unter den Menschen war. Um die Friedhofsruhe weiter zu gewährleisten, versammelte Fürst Metternich seine Mitstreiter 1834 in Wien zu einer Ministerialkonferenz, bei der ganz im Geheimen alle Zugeständnisse, die man bisher gewährt haben mochte, wieder rückgängig gemacht wurden: Die Abgeordneten in den örtlichen Parlamenten, die ohnehin kaum gegen ihre Provinzfürsten ankamen, wurden weiter in ihren Rechten beschnitten, durften nicht einmal mehr beim Haushalt mitbestimmen, sondern nur noch zuschauen, wie ihre Fürsten immer mehr Geld für Prunk und Militär ausgaben, anstatt dem hungernden Volk die Steuerlast zu erleichtern. Das Militär sollte nur noch auf den Monarchen vereidigt werden, nicht einmal mehr auf eine Verfassung – und sei sie noch so rückständig. Und natürlich wurden Meinungs- und Pressefreiheit noch weiter eingeschränkt.

      Überall waren Spitzel unterwegs. Die Polizei überwachte jeden, der auch nur im Verdacht stand, eigenständig zu denken, und auch diejenigen, die laut auszusprechen wagten, dass man die Arbeiter mit ihren Familien nicht verhungern lassen könne. Dass man den Kindern, die sich schon mit fünf Jahren ihre Knochen in den Fabriken kaputtschufteten, doch wenigstens abends ein wenig Schulunterricht gönnen solle. Dass man die Kinder nicht zwölf Stunden am Tag und an sechs Tagen in der Woche für Löhne arbeiten lassen sollte, die nicht ausreichten,