Ich habe Licht gebracht!. Anja Zimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anja Zimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783867295666
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und dem Fenster. Eisblumen wuchsen nicht nur auf den Scheiben, sondern hatten auch die Wände mit ihren kalten Ranken überwuchert. Louise hatte sich noch niemals so schnell für die Nacht umgezogen. Sie sah ihren Atem gefrieren, als sie die Kerze ausblies, dann zog sie die Decke bis zur Nasenspitze und versuchte vergeblich zu schlafen.

      Die Kälte war so unbarmherzig, dass sie einfach nicht einschlafen konnte. Erst weit nach Mitternacht, als sie sich ein wenig warmgebibbert hatte, fiel sie in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie viel zu früh wieder erwachte, denn sie hörte Schritte auf der Treppe. Müde, schlurfende Schritte. Von Männern, Frauen, Kindern, die hinaus in den Wintermorgen mussten. Es schlug vier Uhr. So früh? Wer um alles in der Welt konnte um diese Uhrzeit denn aus dem Haus müssen?

      »Das sind Arbeiter. Sie wohnen in winzigen Zimmern unterm Dach. Oft teilt sich eine ganze Familie ein einziges Bett«, antwortete Antonie, als Louise am Frühstückstisch saß und ihre Hände um eine Tasse heiße Schokolade legte. »Sag nur, du hast gefroren? Du siehst ganz blass aus.« Louise konnte nur nicken, während sie die Schultern noch weiter nach oben zog. Antonie häufte sich Mus auf ihr dick mit Butter bestrichenes Brot und verteilte es mit dem Messer.

      »Wieso hast du denn nichts gesagt, Louise? Wir hätten dir doch eine Wärmflasche machen können«, sagte Julius, indem er die Zeitung, hinter der er sich verschanzt hatte, zur Hälfte herunterklappte.

      »Es war schon so spät und ich wollte euch keine Umstände machen. Aber wieso stehen die Leute so früh auf? Müssen sie so früh anfangen?« fragte sie, um das Thema zu wechseln.

      »Sie fangen nicht so früh an, aber sie haben weite Wege vor sich«, erklärte Julius. Er legte die Zeitung beiseite, rückte seinen Stuhl näher an den Tisch, um endlich auch mit seinem Frühstück zu beginnen. Die Morgenzeitung war für ihn die Vorspeise, wie er zu sagen pflegte. »Manche von ihnen laufen stundenlang durch die Kälte, bevor sie an ihrem Arbeitsplatz sind.«

      »Die Kinder auch?«

      Julius nickte, ohne seine Schwägerin anzuschauen. Er ahnte, wie seine zartbesaitete Schwägerin das auffassen würde.

      »Und in der Nähe der Fabriken sind keine bezahlbaren Wohnungen zu finden?«

      »Das, was dort als Wohnung angeboten wird, ist oft eines Menschen nicht würdig. Hier in Oederan, in diesem Haus wohnen sie auch nicht gerade gemütlich, aber sie haben ein Dach über dem Kopf, durch das es nicht regnet, der Hausverwalter ist ein freundlicher Mensch und die Mieten sind moderat. Dafür nehmen die Menschen den weiten Weg in Kauf. Zumindest haben wir auch hier in Oederan eine Weberei. Die Leute, die hier wohnen und dort arbeiten können, schätzen sich glücklich.«

      »Und die Kinder, mein Gott, die Kinder …« Louise war den Tränen nahe, sodass Julius seine Hand auf ihre legte. »Sie gehen folglich nicht zur Schule, sondern müssen auch schon arbeiten?« Louise konnte nur noch flüstern, als würde das laute Aussprechen dieser Zustände die Kinder verletzen.

      »Wenn du die Fabrikbesitzer fragst, schicken sie alle die Kinder in die Schule. Aber das ist keine Schule, wie du sie aus deiner Kinderzeit kennst. Einmal in der Woche kommt ein abgedankter Offizier in die Fabrik, der mehr mit dem Rohrstock hantiert als mit der Kreide an der Tafel«, antwortet Julius, worauf Antonie ihm einen tadelnden Blick zuwarf. So viel Realismus wollte sie ihrer kleinen Schwester am frühen Morgen noch nicht zumuten.

      Antonie hatte innegehalten und schaute Louise besorgt an. »Bist du sicher, dass du eine Fabrik von innen sehen willst, wie du gestern Abend noch gesagt hast?«

      Louise straffte sich und sagte mit fester Stimme: »Es gibt Dinge, vor denen darf man nicht die Augen verschließen. Man darf sich nicht abwenden, sondern man muss hinschauen und es aushalten. Das ist unsere Pflicht.«

      Mit emporgezogenen Augenbrauen widmete sich Antonie wieder ihrem Musbrot und zog es vor, Louise nicht zu antworten.

      Nachdem Julius in sein Amt gegangen war, hüllten sich Antonie und Louise in warme Mäntel und Schleierhüte, um in die Stadt zu gehen.

      »Ich habe ein paar Dinge zu erledigen. Und hier in Oederan gibt es Fabriken, Fabrikanten und Arbeiter genug«, versprach Antonie, indem sie sich ihren Schal fest um den Hals zog und ihre Pelzhandschuhe überstreifte.

      »Oh, Antonie, bitte sprich nicht so. Ich will die Menschen ja nicht bestaunen wie Kuriositäten in einem zoologischen Garten. Ich will nur … wissen, was wirklich vorgeht, was man nicht in den Zeitungen lesen kann, weil kein Redakteur es schreiben darf. Verstehst du mich ein wenig?«

      »Ich denke schon«, erwiderte Antonie etwas geistesabwesend, während sie ihren Einkaufszettel prüfte. »Komm, wir sollten nicht trödeln.«

      Mit klopfendem Herzen folgte Louise ihrer Schwester.

      Draußen empfing sie ein schneidender Wind, der ihnen Schnee in die Gesichter blies. Louise fasste ihre kleine Handtasche fester und hakte sich bei ihrer Schwester unter.

      »Wenn die Tage langen, kommt der Winter gegangen. So sagt doch immer Tante Malchen, nicht wahr?«, erinnerte sich Antonie mit einem Lachen.

      »Tante Malchen und ihre Sprüche … Ich glaube, ich kann hundert Jahre alt werden, und sie wird immer noch einen neuen Spruch anbringen«, entgegnete Louise weit weniger belustigt. Antonie hatte gut lachen: Sie war hier in Oederan, weit weg von den Launen und düsteren Prophezeiungen der Tante.

      »Guten Morgen, Frau Gerichtsdirektor!« So wurde Antonie immer wieder von Herrschaften begrüßt. Kein Zweifel! Man kannte und achtete sie schon nach so kurzer Zeit hier in dem kleinen Ort, was Antonies Stimmung weiter hob.

      Antonie machte verschiedene Besorgungen in Geschäften, in denen Louise sich meist nur umschaute. Nur in einem außergewöhnlich gut sortierten Nähgeschäft erstand sie ein paar Kleinigkeiten, die in Meißen nicht zu haben waren: besonders schöne Knöpfe, Bänder und ganz feine Nadeln für eine Perlenstickerei.

      »Sei nicht so schüchtern. Ich lade dich ein«, flüsterte Antonie ihr zu und bestand darauf, dass Louise ihren Einkauf zu ihrem legte, damit sie alles zusammen bezahlte. Beim Schneider und der Hutmacherin verbrachten sie viel Zeit, sodass sie bald eine kleine Stärkung brauchten.

      »Und jetzt lad ich dich ins Café ein. Du wirst sehen, wir haben hier in Oederan ein sehr hübsches, wie man es wohl eher in Dresden vermuten würde.«

      Nach wenigen Schritten hatten sie das Café erreicht, das Louise überaus gut gefiel. Es war sehr fein und gemütlich, Kristallleuchter glitzerten von der Decke und verbannten den fahlen Wintertag nach draußen. Die Kuchentheke war himmlisch, es duftete nach Kaffee und heißer Schokolade. Kurz: Es war ein Paradies.

      Es gab mehrere Kaminöfen, in deren Nähe die Tische gut besetzt waren. »Schau, wir haben Glück. Dort wird eben eine Ofenbank frei«, sagte Antonie und bahnte sich einen Weg durch den Saal. Bei dem freien Tisch angekommen, schaute sie Louise an, als habe sie gerade ein Schiff gekapert. Die beiden legten ihre Mäntel und Hüte ab und setzten sich. Bald hatten sie Tee und Kuchen vor sich stehen. Antonie genoss all diese Annehmlichkeiten sichtlich. Auch hier hatte man sie ehrerbietig begrüßt und ausnehmend freundlich bedient. Die Herren am Nebentisch hatten ihr höflich zugenickt und nahmen ihr Gespräch wieder auf.

      Während Antonie ihren Kuchen aß, war Louise sehr still geworden, denn ihr Blick war hinaus auf die Straße geschweift, wo das Schneetreiben zugenommen hatte. Dort draußen ging ein in Lumpen gekleideter Mann. Seine Jacke war zu dünn und löchrig, um ihn vor der Kälte zu schützen, seine Hosen hatten große Löcher an den Knien, an den Füßen trug er nicht mehr als Filzpantoffeln und auf seinem Kopf eine schäbige Mütze. Noch während Louise sich fragte, was diesem armen Mann wohl passiert war, dass er offensichtlich keine Arbeit hatte, merkte sie, dass auch die beiden Herren am Nebentisch auf den Mann aufmerksam geworden waren.

      »Da läuft er ja, der Taugenichts«, sagte einer und machte eine verächtliche Bewegung mit seinem Kinn hin zu dem Mann.

      »Ist das dieser Karl Schott, den du vor drei Wochen entlassen musstest?«

      »Eben der«, bestätigte der erste. Louise rechnete nach. Vor drei Wochen – das war kurz vor Weihnachten. Wie grausam,