Ich habe Licht gebracht!. Anja Zimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anja Zimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783867295666
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ihre Kinder vor dem Hungertod bewahren könnten.

      Wer dies aussprach, wurde hart verfolgt und bestraft. Doch die Lage in den deutschen Ländern wurde für die Ärmsten der Armen immer prekärer. In den Fabriken standen moderne Maschinen, die in Windeseile schafften, wofür ein Mensch an seiner Werkbank Tage brauchte. Für diese Menschen war der Fortschritt geradezu tödlich. Konnte, durfte das sein, dass der Fortschritt über die Menschen hinwegschritt; sie niederwalzte und zermalmte? War unter diesen Umständen Fortschritt möglich? Musste der technische Fortschritt nicht zwangsläufig einhergehen mit einem neuen Menschenbild, einer neuen Gesellschaftsordnung? Konnte es auf lange Sicht gut gehen, wenn nur ein Teil des Volkes im 19. Jahrhundert angekommen war und der weitaus größere Teil noch lebte wie im Mittelalter? Würde sich die tödliche Seite dieser Entwicklung nicht irgendwann bitterst rächen, zerstörerisch wüten in den Villen und Palästen derer, die im Moment davon profitierten? Konnte man wollen, dass Arbeiter ausschließlich arbeiteten? Sechzehn Stunden am Tag? Ohne Absicherung bei Krankheiten, die bei der schweren Arbeit, die in vielen Fabriken verrichtet wurde, gang und gäbe waren? Konnte man zulassen, dass der Fortschritt abrupt zum Stehen kam vor der ärmlichen Behausung derer, die ihn mit ihrer Hände Arbeit schufen?

      Unterdessen war der Tod erneut im Hause Otto eingekehrt. Nach Clementines Tod hatte sich Louise enger an die Mutter angeschlossen, doch eines Tages begann die Mutter, immer heftiger zu husten. Der Husten wurde immer stärker und schüttelte unbarmherzig ihren Leib, der zusehends schwächer wurde. Die Auszehrung oder Schwindsucht war nicht heilbar. Louise war sechzehn Jahre alt, als die Mutter im Oktober 1835 starb. Charlotte war erst 54 Jahre alt.

      Der Vater versuchte nun, seinen Töchtern alles zu sein, Vater und Mutter. Vor allem um seine Jüngste machte er sich Sorgen, weil die größte Sorge der Mutter auf ihrem Sterbebett Louise gegolten hatte. Was sollte aus dem verträumten, verwachsenen Mädchen werden, dessen Augen bald intensiv in die Welt schauten, bald sich nach innen zu wenden schienen, wo sie das Gesehene kaum verarbeiten konnten? Louise war dankbar für ihren verständnisvollen Vater, der sie mit allem, was sie tat, gewähren ließ. Er redete ihr nicht drein, wenn sie las, schrieb oder einfach nur still vor sich hin blickte. Enger als jemals schloss sie sich an ihren Vateran, in dem sie einen Vertrauten und einen Verbündeten in ihrer Trauer fand. Doch im Februar 1836 starb er an einem Schlaganfall.

      Louise hatte das Gefühl, in eine bodenlose Dunkelheit zu fallen.

       Dresden im Frühjahr 1839

      Es war ein schöner Frühlingsabend, als Louise und ihre Schwestern mit dem Schiff nach Dresden fuhren. Antonie und Francisca wurden begleitet von ihren Bräutigamen, die sie Tante Therese vorstellen wollten. Nach allen Erzählungen waren die beiden jungen Herren nicht erpicht darauf, aber irgendwann musste es sein.

      Das Schiff passierte die letzte Flussbiegung und vor ihnen lag im Schein der Abendsonne die barocke Stadt mit ihren Türmen, der dunklen Kuppel der Frauenkirche. In der Nähe des Schlosses streckte eine Baustelle ihre Kräne in den Himmel.

      Immer näher kamen sie, deutlicher hoben sich die Bauten aus dem Abenddunst hervor, bald sahen sie die Anlegestelle, an der schon viele Menschen auf das Schiff warteten.

      »Antonie, siehst du schon unsere Tante Therese?«, fragte Louise und beugte sich an der Reling vor.

      »Wie könnte ich Tante Therese übersehen? Schau, da drüben steht sie und schwenkt ihren Regenschirm, wahrscheinlich aus lauter Angst, wir könnten sie übersehen, uns in Dresden verlaufen und unter die Räder kommen.«

      Bei diesen Worten wechselten Heinrich Burckhardt und Julius Dennhardt vielsagende Blicke. Sie würden sich und ihren beiden Bräuten sicher schöne Tage machen in der Stadt und den Argusaugen der Tante ausweichen.

      Francisca und Louise kicherten, als sie die Tante sahen. Ja, die gute Therese Vogel gab sich immer sehr mondän, wenn sie ins beschauliche Meißen kam, und wurde nicht müde zu betonen, wie groß und weltstädtisch Dresden war. Allerdings führte dies dazu, dass sie übermäßig besorgt war, wenn die Meißener Mädchen nach Dresden kamen. Wie eine Glucke hatte sie gut acht auf die drei Schwestern. Louise winkte ihr zu, was noch heftigeres Tantenwinken zur Folge hatte. Die gute Therese Vogel war verwitwet, trug schwarze Kleider mit vielen Rüschen und immer einen Hut mit einem kleinen Schleier. Dadurch war sie zwischen all den frühlingshaft hell gekleideten Menschen gut zu erkennen.

      »Gut, dass sie weiß, dass wir sie schon gesehen haben, sonst würde sie womöglich noch auf und ab hüpfen«, vermutete Francisca und nahm ihren Koffer.

      »Aber Francisca, den Koffer musst du doch nicht nehmen. Gib ihn mir«, verlangte Heinrich und nahm seiner Braut die Last ab. Francisca lächelte ihn dankbar an, zumal das Gedränge an Bord des Schiffes so kurz vor der Ankunft in Dresden lästig wurde. Julius nahm seiner Braut ebenfalls das Gepäck ab und vergaß auch Louise nicht. So kam die kleine Reisegruppe ans Ufer. Dort standen sie vor der Tante und die beiden Herren sahen sich einem kritischen Blick unterzogen. Ein Militärarzt hätte nicht prüfender dreinschauen können.

      »Da habt ihr euch zwei schöne, stattliche Männer ausgesucht«, waren die ersten Worte der Tante, noch bevor sie ihre Nichten begrüßt hatte. Die beiden Herren gaben der Tante die Hand und verneigten sich kurz, indem sie sich vorstellten.

      »Burckhardt und Dennhardt. Und schöne Namen haben sie obendrein. Guten Tag, meine Lieben alle. Es muss eine angenehme Fahrt gewesen sein, von Meißen hierher, bei dem Wetter.«

      Die drei Schwestern begrüßten ihre Tante mit einer Umarmung.

      »Aber nun lasst uns erst einmal zu mir nach Hause gehen. Ihr seid sicher alle müde von der Reise, nicht wahr?« Louise musste neben der Tante gehen, die beiden Paare folgten.

      »Was wird dort gebaut, Tante?«, fragte Louise, als sie die Baustelle passierten, deren Kräne sie schon vom Schiff aus gesehen hatten.

      »Gottfried Semper baut dort ein Hoftheater. In zwei Jahren soll es fertig sein. So lange musst du dich noch gedulden, Louise.«

      »Du musst mich unbedingt wieder einladen, wenn es fertig ist. Ich will alles sehen, was dort gespielt wird.«

      »Am liebsten würdest du dort wohl selbst spielen? Tante Malchen hat mir erzählt, dass du den halben Schiller auswendig kannst.«

      »Sie kann den ganzen Schiller auswendig, Tante«, rief Antonie belustigt. »Was Louise tut, das tut sie richtig gründlich.«

      »Tatsächlich, bist du ein solcher Bücherwurm? Hier in Dresden gibt es so viel Unterhaltung, da wirst du nicht zum Lesen kommen, Louise.«

      Louise schwieg dazu. Die Schwestern hatten schon angedeutet, dass sie sie in die Gesellschaft einführen wollten, wie es so schön hieß. Allein dieser Gedanke machte Louise Herzrasen. So viele ihrer Schulkameradinnen brannten darauf, endlich auf Bälle zu gehen, sich zu zeigen, nur zu dem einen Zweck, dass man sich einen möglichst reichen Bräutigam angelte. Louise schauderte. So sehr sie sich auch bemühte, sich streckte und aufrecht hielt, man sah ihr an, dass sie nicht gerade gewachsen war. Tanzen war für sie eine unendliche Qual, denn ihr Bein konnte niemals mithalten mit der Musik. Wer sollte sich also auf einem Ball für sie interessieren? Und sie hasste es, aus Mitleid aufgefordert zu werden.

      Ihre Schwestern hatten beide Glück gehabt: Heinrich und Julius waren freundliche, fürsorgliche Männer, deren Liebe erwidert wurde. Die beiden beteiligten sich sogar an dem literarischen Zirkel namens »Bienenkorb«, den die Otto-Schwestern ins Leben gerufen hatten und der von ihrem Mieter Dr. Wilhelm Milberg geleitet wurde. Louise musste zugeben, dass die beiden Herren durchaus Brauchbares zu den Gesprächen beisteuerten. Aber waren solche Männer nicht die Ausnahme?

      Noch während Louise ihren Gedanken nachhing, waren sie an der Wohnung der Tante angekommen. Sie lag im fünften Stock eines großartigen Hauses.

      »Ach, wenn doch nur die Treppen nicht wären!«, stöhnte die Tante. »Aber um nichts in der Welt wollte ich auf die Aussicht