Ich habe Licht gebracht!. Anja Zimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anja Zimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783867295666
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Sie kannte diese Schatten, die immer wieder an der Haustür ihrer Eltern erschienen wie eine Mahnung an die Vergänglichkeit auch des bescheidensten Wohlstandes. Ausgemergelte Frauenleiber, an deren schlaffen Brüsten vergeblich Kinder hingen. Ungenährt, ungewollt, ungeliebt. So viele waren es. So viele. Ihre ganze Hoffnung galt einem Stück Brot. Glück, Zufriedenheit und die Sicherheit eines Hauses waren nichts weiter als Versprechen, die das Leben selbst längst gebrochen hatte.

      Im Hause Otto wurde noch lange gefeiert. Freunde und Nachbarn waren alle bei dem Gerichtsdirektor eingeladen, um auf das Wohl des Mitregenten zu trinken. Louise, in deren Kopf sich viel zu viele Bilder überschlugen, zog sich zurück in das Schlafzimmer, das sie mit den Schwestern teilte. Papier und Feder hatte sie schnell zur Hand und schrieb auf dem Fensterbrett ihr erstes Gedicht. Es dauerte nicht lange und Clementine schaute herein.

      »Da bist du ja! Wir haben dich schon gesucht. Was machst du?« Sie trat hinter Louise und schaute ihr über die Schulter. Louise schaute kurz zu ihr auf, dann heftete sich ihr Blick wieder auf das Papier, auf dem schon ein paar Strophen entstanden waren. Wörter waren durchgestrichen, durch andere ersetzt, Pfeile deuteten an, wohin die Wörter gehörten.

      »Dann lass ich dich lieber wieder alleine«, flüsterte Clementine und strich dabei ihrer jüngsten Schwester übers Haar. »Aber komm nachher und lies es uns vor, ja?«

      In Louises Kopf arbeitete es fieberhaft. Kaum hatte sie wahrgenommen, dass Clementine bei ihr gewesen war. Das gerade Erlebte verdichtete sich zu Wörtern; Wörter versammelten sich zu Zeilen, fügten sich reimend ineinander, verdichteten sich zu Strophen. Sie las ihr Gedicht wieder und wieder durch, strich und ergänzte so lange, bis sie zufrieden war. Sie schrieb alles ins Reine und ging zurück zu ihrer Familie.

      Wie erstaunt waren die Freunde und Nachbarn, als die Elfjährige mit einem Zettel in der Hand zu ihnen kam und Ruhe verlangte. Man wischte sich die Münder an den Servietten ab und drehte sich um. Der Nachbar mit der roten Nase fürchtete einen längeren Vortrag und versorgte sich mit einem vollen Glas Wein, seine Frau und die Söhne pickten Kuchenkrümel von den Tellern und stießen sich kichernd in die Seiten. Clementine klatschte in die Hände und brachte selbst die letzten Schwätzer zum Schweigen.

      Und Louise trug ihr erstes Gedicht vor. Sie pries darin den Mitregenten, ermahnte ihn, für sein Volk zu leben, nur auf dieses sich zu verlassen, dann könnten ihm auch die Jesuiten nichts anhaben. Man applaudierte fröhlich, wobei sich die Nachbarn die berechtigte Frage stellten, woher die Elfjährige so gut über die Jesuiten Bescheid wusste.

      »Sie schnappt alles auf!«, seufzte die Mutter, die mit ihrem Mann natürlich über die Hintergründe der abgesagten Feierlichkeiten im Juni gesprochen hatte.

      Tatsächlich änderte sich mit Prinz Friedrich August mehr, als man zu hoffen gewagt hatte. 1831 bekam Sachsen sogar eine Verfassung, die Freiheit der Person, Freizügigkeit und Beschwerderecht einschloss. Die Pressefreiheit zählte nicht dazu – schließlich wollte man sich nicht auf eine Stufe stellen mit den Revolutionären auf der Straße.

      Fürst Metternich reagierte prompt und ließ die sächsische Regierung wissen, man könne und wolle es nicht als möglich betrachten, dass die königlich sächsische Regierung sich Gesetze durch einen aufgeregten Pöbel oder durch irregeführte Bürger vorschreiben lasse.4

      Auch aus Preußen kam keineswegs Lob. Der junge Lindenau war daraufhin nach Preußen gereist, um dort die Wogen zu glätten und um Verständnis für die sächsischen Reformen zu werben. Dies tat er mit dem Hinweis, dass König Anton de facto nicht mehr regiere. Diese Tatsache beruhigte den preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm und er schrieb am 3. Januar 1831 an den Mitregenten Prinz Friedrich August: »Wirklich, gnädigster Herr, wüsste ich nicht die Zügel der Herrschaft bey Ihnen in so frischen, kräftigen Händen, ich würde für uns als Nachbarn eine gewisse Besorgnis nicht unterdrücken können.«5

      So unterschiedlich waren die Meinungen über die sächsischen Reformen. Die einen sahen darin den Untergang der gottgewollten Ordnung, die anderen ein laues Lüftchen, wo es einen Sturm gebraucht hätte.

      Nach wie vor war es gefährlich, allzu laut seine Meinung kundzutun oder auch nur Tatsachen auszusprechen wie das Elend der Weber, der Klöpplerinnen oder des Industrieproletariats. Daher zog man sich zurück in die eigenen vier Wände, die im Laufe der Zeit immer heimeliger wurden. Allgemein waren die hellen Wände der Wohnstuben mit Blümchenmustern betupft, der Kaffee dampfte neben dem Kuchen, den die weißbeschürzte Hausfrau gebacken hatte, Schillerlocken wippten neben unwissenden Mädchengesichtern, die Biedermeier-Herren sprachen nicht mehr von Politik, sondern ließen leise Hausmusik erklingen. Selbst die Hirsche röhrten lautlos in ihren Ölgemälden. Lediglich die neumodisch kurzen Röcke, die nicht nur die Schuhe, sondern auch die Knöchel (Jawohl! Die Knöchel!) der Damen sehen ließen, sorgten eine Weile für Aufregung.

      Fürchtegott Otto hatte die Leipziger Zeitung abonniert und las sie gerne mit seiner Frau und den Töchtern. Tante Malchen hörte dann und wann zu, behielt ihre Gedanken aber für sich, wenn ihr Schwager allzu modern wurde.

      Einmal kam er mit den niedergeschriebenen Landtagsverhandlungen nach Hause, umarmte und küsste seine Frau, als wolle er ihr gratulieren, und rief: »Nun freue dich! In wenigen Jahren schon ist die Geschlechtsvormundschaft aufgehoben. Wenn ich sterbe, kannst du machen, was du willst und brauchst nicht erst einen Curator.«

      »Das ist hoffentlich noch lange hin, mein lieber Mann, aber Gott sei Dank!«, erwiderte die Mutter. »Das wird auch gut sein für die Mädchen. Denkst du denn, dass die Änderung bald kommen wird?«

      »Ich denke schon. Im Moment spricht man im Landtag nur darüber, aber wenn unsere Mädchen über einundzwanzig Jahre alt sind, wird dieses Gesetz sicher schon in Kraft getreten sein.«

      Unter den älteren Töchtern brach ein wildes Geschnatter los. »Mündig! Jetzt dauert es nicht mehr lange, dann können wir selbst bestimmen.«

      »Hört, hört! Haben wir euch denn so sehr geknechtet?« fragte der Vater belustigt.

      »Ach, nein, Vater!« Clementine sprang von ihrer Arbeit auf. »Aber es ist doch ein anderes Lebensgefühl, wenn man weiß, dass man auch als unverheiratete Frau etwas gilt.«

      »Was genau bedeutet das, Vater?«, fragte Louise und blickte von ihren Schularbeiten auf.

      »Das, meine Liebe, bedeutet, dass unverheiratete Frauen über einundzwanzig Jahren und Witwen mündig sind. Man betrachtet sie vor dem Gesetz nicht mehr wie Kinder, sondern sie dürfen selbst bestimmen, wo und wie sie leben, wofür sie ihr Geld ausgeben – wenn sie welches haben. Sie dürfen selbst vor Gericht gehen, wenn ihnen Unrecht geschehen ist, und jemanden verklagen.«

      »Nur die verheirateten Frauen stehen noch immer unter der Vormundschaft ihrer Ehemänner«, warf Charlotte ein. »Ich kann nur hoffen, dass auch das bald aufhört.«

      Louise hörte schon nicht mehr, wie sich die Eltern scherzhaft stritten, wer denn hier im Hause mehr das Sagen habe. »Leben, wo und wie sie wollen.« Dies fiel tief in Louises Geist. Wie dankbar war sie, in dieser Zeit zu leben, in der so viel möglich war.

      »Lernt nur fleißig, ihr Mädchen, dann braucht ihr nicht zu heiraten, wenn ihr nicht wollt«, schloss der Vater und setzte sich mit einem behaglichen Lächeln zwischen seine Töchter.

      »Was wird es ihnen denn nützen, wenn sie noch so klug und gebildet sind?«, sagte die Mutter, worauf Tante Malchen zustimmend nickte: »Wenn sie zu klug sind, wird kein Mann sie wollen. Welcher Mann will schon eine Frau, die ihm vorschreibt, wo es langgeht? Die am Ende klüger ist als er! Und ganz aus ist es, wenn sie gebildeter ist als er. Wie kann in einem solchen Hause Frieden herrschen?«

      »Liebe Tante, denkst du denn wirklich, dass häuslicher Frieden darin besteht, dass eine Frau weit hinaufschaut zu einem Mann, der ihr göttergleich überlegen ist? Auch Männer sind aus Fleisch und Blut und haben morgens beim Aufstehen strubbelige Haare und schlechten Atem.« Die aufkommende Empörung der Erwachsenen versuchte Clementine einzudämmen: »Aber«, rief sie mit erhobenem Zeigefinger, »ich werde einen Mann auch mit strubbeligem Haar lieben können, wenn er mich ebenfalls liebt, so wie ich bin. Ich werde ausschließlich der Liebe wegen heiraten.«