Ellen. Carolin Schairer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Schairer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783897419964
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      Marga blies kleine Rauchwölkchen in die Luft und sagte: »Ich habe gesäh-än, im TV, heute am Nachmittag oder frühe Abend, dass da ist ein Mädchen fast gestor-bän wägen eine Pille! Und so eine auf-gebrä-zzzelte Tussi von diese Pharmakon-zärrn und ein Arzt haben gesagt, dass es kann vorkommen mit die Pille! – Also, ich wär-de nicht mä-hr nehmen so eine Pille!«

      Der kleine Beitrag im ORF, in dem Jasna mit einem Statement vertreten war, war folglich schon ausgestrahlt worden, schloss Nina. Sie würde den Mitschnitt des Beitrages noch durch den Medienbeobachtungsdienst zugestellt bekommen. Jasna hatte gesagt, die Aufzeichnung sei gut gelaufen.

      Es ärgerte Nina, dass Marga Jasna als »aufgebretzelte Tussi« bezeichnete. Und sie hatte offenbar keine Ahnung von den Risiken, obgleich sie anscheinend selbst die Pille nahm.

      »Die Pille kann nun mal das Thromboserisiko bei besonders gefährdeten Patientinnen erhöhen«, klärte sie auf. »Das ist bei jeder Verhütungspille so. Deshalb ist es ja auch dringend erforderlich, dass der Arzt vor der Verschreibung einen Risikocheck macht – dass er beispielsweise fragt, ob es in der Familie Schlaganfälle bei noch jüngeren Familienmitgliedern gegeben hat; dass er registriert, wie alt die Patientin ist und Faktoren beachtet wie beispielsweise das Rauchen.« Sie konnte nicht umhin, Marga ein sarkastisches Lächeln zu schenken. »Bei Raucherinnen erhöht sich das Thrombose-Risiko nämlich deutlich.«

      »Das ist ja furchtbar!«, sagte Sonja erschüttert. »Das habe ich überhaupt nicht gewusst. Ab sofort nehme ich die Pille nicht mehr!«

      Nina lächelte. »Keine Sorge, Sonja, das sollte nicht die Kernbotschaft sein. Das Thromboserisiko bei einer Schwangerschaft ist sogar um vieles höher. Und die Pille kann ja auch viele Vorteile haben, das muss schon auch gesagt werden. Sie ermöglicht Frauen immerhin ein selbstbestimmtes Sexualleben, kann bei Hautproblemen helfen und Regelschmerzen lindern. Vor Kurzem hat eine Studie sogar gezeigt, dass das Risiko, an Eierstockkrebs zu erkranken, bei Frauen, die orale Kontrazeptiva nehmen, signifikant unter dem Wert liegt, den die Kontrollgruppe aufweist – also Frauen, die nie mit der Pille verhütet haben.«

      Lukas, Sonja und Marga starrten sie mit offenem Mund an. Nina runzelte die Stirn. Was war denn los? Sie hatte doch nichts Falsches gesagt!

      »Orale … was? Kontraspezifa? Was ist denn das?«, wiederholte Sonja verwirrt.

      »Signifikanter Kontrollverlust?«, erkundigte sich Lukas in gespieltem Ernst. Marga begann zu lachen, und die beiden anderen stimmten in das Gelächter ein. Sie lachten und lachten, und Marga liefen bereits nach kurzer Zeit Tränen der Heiterkeit über das Gesicht. Einzig und allein Nina begriff nicht, was der Anlass für diesen Lachanfall war. Marga klärte sie schließlich auf, indem sie Lukas kameradschaftlich auf die Schulter schlug und lauthals verkündete:

      »Deine Frein-din rä-det wie brain-washed! Absolute Gehirnwäsche haben die mit ihr gemacht!«

      Lukas grinste breit. »Tja, Nina wird allmählich zur lebendigen Werbe-Ikone der Pharmaindustrie. Ich verstehe auch nicht, warum sie sich so für die Pillendreher begeistern kann.«

      Nina starrte von Lukas zu Marga und von Marga zu Lukas, sah deren erheiterte Mienen und fragte sich, ob hier neben Alkohol noch andere chemische Substanzen die Hirne vernebelten. Dass Marga es nicht besser wusste und seit jeher ihr gegenüber eine gewisse Herablassung an den Tag legte, traf sie weit weniger als das Verhalten ihres Freundes. Er wusste doch ganz genau, dass sie nicht aus Leidenschaft und Faszination für LENOPHARM arbeitete!

      »Wir wollten das hier noch fertig machen«, mahnte Sonja nun und lenkte die Aufmerksamkeit von Nina, die noch immer in Sprachlosigkeit verharrte, um auf die Striche und Pfeile am Blatt. »Viel haben wir sowieso noch nicht geschafft.«

      »Aber jetzt!«, verkündete Lukas und lachte über seine eigene Aussage. »Die Nacht ist noch jung – je später am Abend, desto kreativer werde ich.«

      »Bei mirrr ist es ganz genauso!«, dröhnte Marga.

      Nina verließ wortlos den Raum und ging in die Küche. Sie fühlte sich ausgegrenzt, ausgelacht und verärgert. Es war ihr Wohnzimmer, ihre Wohnung, sie zahlte die Miete – und die drei amüsierten sich auf ihre Kosten. Es war ihr Geschirr, das Lukas benutzte und anschließend schmutzig ins Becken stapelte. Während sie wütend einen der Töpfe von angebranntem Reis befreite, fragte sie sich zum ersten Mal seit sie zu Lukas nach Wien gezogen war, ob sie sich richtig entschieden hatte. Wäre es nicht besser gewesen, erst einmal eine Fernbeziehung aufrechtzuerhalten?

      Sie hatte Lukas vor rund zwei Jahren bei einem Open-Air-Festival in der Nähe von Salzburg kennengelernt. Da hatte sie gerade ihre Ausbildung zur Illustratorin abgebrochen, weil es nicht das gewesen war, was sie sich vorgestellt hatte, und jobbte als Rezeptionistin bei einer Werbeagentur und stundenweise in einem Callcenter. Nina wohnte in München, wohin sie vor Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter gezogen war. Inzwischen lebte ihre Mutter mit ihrem Lebensgefährten an der Nordsee, doch Nina war da bereits 22, frisch verliebt in einen Münchner und nicht willens, ihren Wohnort schon wieder zu ändern. Zu oft war sie während ihrer Kindheit und Teenagerjahre umgezogen.

      Die Beziehung zu dem Münchner ging in die Brüche, doch Nina blieb, weil sie inzwischen einige Leute kannte und Jobs hatte, mit denen sie sich durchschlagen konnte. Im Callcenter war sie zuständig für Meinungsumfragen. Doch mehr als vier Stunden täglich schaffte sie es nicht, Leuten am Telefon immer wieder dieselben Fragen und Antwortmöglichkeiten vorzulesen und jene Unfreundlichkeit über sich ergehen zu lassen, die Leute an den Tag legen, wenn sie Beute von Telefonmarketing werden.

      Das einzig Gute an diesem Job war für Nina die Bekanntschaft mit Inga, einer blondlockigen Kunsthistorik-Studentin, die fast immer zeitgleich mit ihr Dienst hatte und die durch ihren Humor und ihre Heiterkeit dazu beitrug, dass die Zeit im Callcenter schneller verging. Inga und sie verstanden sich blendend und trafen sich schließlich auch privat. Sie gingen ins Kino, klammerten sich bei Horrorfilmen in aufgesetzter Panik aneinander, wischten sich bei schmalzigen Liebesfilmen beide gleichzeitig verstohlene Tränen aus den Augen, tanzten in Salsa-Clubs bis in die frühen Morgenstunden und trösteten einander, wenn Liebeskummer sie quälte. Mit Inga war sie damals zu dem Open-Air-Festival nach Salzburg gefahren, auf dem sie sich in Lukas verliebte.

      Bereits am Wochenende darauf kam Lukas nach München, und am übernächsten Wochenende reiste Nina dann in eine Kleinstadt, von deren Existenz sie bis zu ihrer neuen Bekanntschaft nicht einmal etwas geahnt hatte: Regen im Bayerischen Wald.

      Lukas wohnte, was er ihr bis zu ihrer Ankunft am Bahnhof verschwiegen hatte, noch in seinem Kinderzimmer im Hause seiner Eltern. Nina war in der Tat überrascht – hatte er ihr nicht gesagt, er arbeite bereits seit dem Abitur bei einer Bank?

      An diesem Wochenende erfuhr sie, dass Lukas eigentlich ganz andere Pläne hatte als lebenslänglich am Banktresen zu stehen: Er hatte sich in den Kopf gesetzt, Musical-Star zu werden. Doch die Grundbedingung für den Sanktus und die damit verbundene finanzielle Unterstützung seiner Eltern war, dass er sich bereiterklärt hatte, zuvor zumindest einen soliden bürgerlichen Beruf zu erlernen. Die Wahl war auf eine Banklehre gefallen, weil die Bank am Ort war und Lukas zu Hause wohnen bleiben wollte, um möglichst viel Geld für die Musical-Ausbildung zu sparen. Seine Eltern konnten nicht mehr Unterstützung aufbringen, als dass es für die Miete und eventuell einen bescheidenen Lebensunterhalt reichen würde, denn sie mussten noch das große Einfamilienhaus abbezahlen.

      Für Nina war Lukas’ Familie wie der Eintritt in eine neue Welt. Sie hatte zuvor noch niemanden mit eigenem Haus näher kennengelernt, und sie kannte auch keine Leute, die bereits in dem Ort geboren waren, in dem sie lebten, und auch vorhatten, dort den Rest ihres Lebens zu verbringen. Sie hatte zuvor auch nie Leute kennengelernt, die Porzellanpuppen in eigens dafür angefertigten Vitrinen sammelten, jeden Samstag mit ihrem BMW extra zur Tankstelle fuhren, um ihn durch die Waschanlage zu schicken, und sich gegenseitig mit »Mama« und »Papa« anredeten. Sie merkte, dass sie in dieses Leben nie passen würde, und fühlte sich bei ihren Aufenthalten in Regen nie besonders wohl. Lukas’ Eltern waren freundlich zu ihr, doch Nina spürte immer, dass sie nicht die Schwiegertochter verkörperte, die sie sich erträumten.

      Sie war über jedes Wochenende dankbar